Das unerträgliche annehmen. Joanne Cacciatore
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Название: Das unerträgliche annehmen

Автор: Joanne Cacciatore

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная психология

Серия:

isbn: 9783962572549

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СКАЧАТЬ ist mein Weg. Ich habe diesen Weg nicht gewählt, aber es ist ein Weg, den ich achtsam und absichtsvoll gehen muss. Es ist eine Reise durch die Trauer und sie braucht Zeit. Jede Zelle in meinem Körper tut weh. Zurzeit kann es sein, dass ich ungeduldig, abgelenkt, frustriert und unkonzentriert bin. Ich will nichts feiern. Es kann sein, dass ich leichter wütend werde oder hoffnungslos wirke. Ich werde viele, viele, viele Tränen weinen. Ich werde nicht mehr so oft lächeln wie früher. Lächeln tut jetzt weh. An manchen Tagen tut so gut wie alles weh, sogar das Atmen.

      Aber bitte sitz einfach nur neben mir.

      Sag nichts.

      Biete mir kein Heilmittel an.

      Keine Pille, kein Wort und keinen Zaubertrank.

      Nimm meinen Schmerz zur Kenntnis und wende dich nicht von mir ab.

      Bitte sei behutsam mit mir.

      Bitte, mein Selbst, sei auch behutsam mit mir.

      Ich werde niemals „darüber hinwegkommen“, also dränge mich bitte nicht in diese Richtung. Auch wenn es so aussieht, als hätte ich einen guten Tag, vielleicht kann ich sogar kurz lächeln – der Schmerz ist trotzdem direkt unter meiner Haut. In meinem Brustkorb ist ein ständiger Schmerz, der nach unten zieht, und manchmal fühle ich mich, als würde ich durch die Trauer explodieren.

      Sag mir nicht, was ich tun oder lassen soll – oder dass ich mich „inzwischen besser fühlen“ sollte. Sag mir nicht, dass „Gott einen Plan für mich hat“. Sag mir nicht, was richtig oder falsch ist. Ich gehe meinen eigenen Weg in meinem eigenen Tempo.

      Ich habe jetzt eine neue Normalität. Im Laufe der Zeit werden mir vielleicht neue Bedeutungen einfallen und Einsichten kommen, was ihr Tod für mich bedeutet. Eines Tages, wenn ich sehr alt bin, werde ich vielleicht sagen, dass die Zeit mir geholfen hat, mein gebrochenes Herz zu heilen. Aber denke immer daran, dass keine Sekunde keiner Minute keiner Stunde keines Tages vergeht, in der ich mir nicht ihrer Abwesenheit bewusst bin, egal, wie viele Jahre ich auf dem Buckel habe.

      Bitte gehe behutsam mit mir um.

      Ich habe ihr diesen Brief nie geschickt.

      Ich war zu verängstigt und verletzt, deshalb ging ich nicht mehr ans Telefon, wenn sie anrief. Dieser eine Kontakt mit ihr bewirkte, dass sich die Kluft zwischen mir und den anderen vergrößerte. Es sollte noch einige Jahre und eine Initialzündung in meinem Bauch brauchen, bis ich lernte, mich passend zu äußern, wenn andere mir mit ihren Worten zusetzten.

      Einige sagen uns vielleicht, es sei „Zeit, nach vorne zu schauen“ oder alles sei „Teil eines größeren Plans“ – weil sie sich durch unseren niederschmetternden Schmerz unwohl, verwundbar, bedroht fühlen. Andere meiden uns, wieder andere bemitleiden uns. Aber diese Trauer gehört uns.

      Wir haben diese Trauer erworben, bezahlen dafür mit Liebe und felsenfester Hingabe. Wir besitzen diesen Schmerz, selbst an Tagen, an denen wir wünschten, es wäre nicht so. Wir haben es nicht nötig, ihn abzugeben oder ihn uns wegnehmen zu lassen.

      Durch Trauer und Liebe können wir den Kopf hochhalten, auch unter Tränen, auch, wenn wir am Boden zerstört sind.

      Was uns gehört, gehört uns – rechtmäßig.

      6

      Kulturelles Feingefühl

      Gewalttaten verbannt man aus dem Bewusstsein – das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen … sind zu schrecklich, als dass man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort „unsagbar“ gemeint. Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Judith Herman

      An einem frühen Samstagmorgen klingelte mein Telefon. Es war die leitende Gerichtsmedizinerin des Instituts, für das ich als ehrenamtlicher Familienkontakt arbeitete. „Komm bitte sofort“, sagte sie. Sie erklärte, gerade sei ein Baby gestorben, sein Leichnam sei zur Autopsie geschickt worden, um die Todesursache festzustellen, aber die Familie verweigere die Zustimmung. „Sie sind aus dem Reservat”, sagte sie. „Das ist ein echtes Problem für uns.“

      Mir schien die Sache klar: „Dann mach eben keine Autopsie.“ Aber sie erinnerte mich daran, dass es in dem US-Bundesstaat bei jedem plötzlichen Todesfall gesetzlich vorgeschrieben war, eine Autopsie durchzuführen. Davon gab es nur eine Ausnahme: falls sich der Tod in einer souveränen Nation (einem Reservat) amerikanischer Ureinwohner ereignet hatte. Nun hatte der Junge zwar in der souveränen Nation gelebt, war aber mit dem Hubschrauber in ein lokales Krankenhaus geflogen worden, wo er dann verstorben war.

      Zwei Paare mittleren Alters und ein junges Paar warteten eng beieinanderstehend im Parkhaus auf mich. Einer der älteren Männer, Henry, der sich später als Großvater väterlicherseits herausstellte, trat aus der Gruppe heraus. Ich stellte mich nur ihm vor und vermied es, mich den anderen Familienmitgliedern zuzuwenden oder Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen. Im Institut angekommen, bot ich Wasser und Taschentücher an und sicherte ihnen zu, ihre Fürsprecherin zu sein. Ich spürte keine Gefühlsregung in der Familie, nicht einmal Trauer. Doch das jüngere Paar saß auf den Stühlen in der Ecke und umarmte sich, mit gesenkten Köpfen, als würden sie beten. Nur Henry blickte mich an, daher sprach ich direkt und ausschließlich ihn an.

      „Es tut mir sehr leid“, sagte ich. „Möchten Sie mir die Geschichte erzählen?“

      Henry erklärte, dass sein Enkel Joseph ein gesundes, gut gedeihendes, achtzehn Monate altes Kleinkind gewesen war. Dann wurde er urplötzlich krank, und als er Fieber bekam, wandten sich seine Eltern (das junge Paar in der Ecke) an den Medizinmann. Josephs Symptome hielten den ganzen Tag lang an, sodass Henry sie drängte, ins Gesundheitszentrum zu fahren. Kurz nach ihrer Ankunft im Gesundheitszentrum erlitt Joseph einen Anfall und wurde ins lokale Krankenhaus geflogen, wo er einige Stunden später für tot erklärt wurde. Die behandelnden Ärzte schickten Josephs Leichnam zur Autopsie und benachrichtigten die Familie – die dann begann, gegen das Verfahren zu protestieren: Autopsien sind in ihrer souveränen Nation verboten.

      Während Henry die Geschichte erzählte, bemerkte ich, dass andere Familienmitglieder zu weinen anfingen, sich in der Ecke zusammendrängten und einander festhielten. Josephs Eltern zitterten. „Wo wir herkommen, sind keine Autopsien erlaubt!“, sagte Henry. „Sie stören den Aufstieg des Geistes. Es ist ein Verstoß gegen unsere Gebräuche.“ Ich versicherte ihm nochmals, dass ich als Fürsprecherin seiner Familie handeln würde. Ein paar Minuten lang erklärte ich das übliche Verfahren im gerichtsmedizinischen Institut.

      Mit seiner Einwilligung ging ich ins Büro des Instituts. Samstags arbeitete dort nur eine Gerichtsmedizinerin. Ich berichtete ihr über die Familie und unterstrich die Notwendigkeit, ihre Kultur und Gebräuche zu respektieren. Sie verstand und schlug eine Alternative vor. „Wenn wir mit Röntgen und Labortests anfangen, können wir vielleicht auch ohne Autopsie die Todesursache herausfinden“, sagte sie. „Würde die Familie das erlauben?“

      Zurück im Warteraum erklärte Henry sich mit dieser Option einverstanden.

      Zwei Stunden lang warteten wir gemeinsam schweigend auf die Ergebnisse. Henry flüsterte mit seiner Familie leise indigene Gebete. Ich blieb die ganze Zeit über bei ihnen, saß dabei aber schweigend auf der anderen Seite des Zimmers.

      Schließlich bat mich die Gerichtsmedizinerin durch das Sicherheitsfenster zwischen Wartebereich und Büro, zu ihr zu kommen – und zum ersten Mal nahmen die Angehörigen Blickkontakt mit mir auf. СКАЧАТЬ