Название: Das unerträgliche annehmen
Автор: Joanne Cacciatore
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783962572549
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Meine Reisen nach Osten und zurück nach Hause schienen mir symbolisch für viele Reisen durch Liebe und Trauer. Durch das Fenster an meinem Platz sah ich verlassene Spielplätze und verfallene Scheunen direkt neben frisch gestrichenen Schulen und florierenden Bauernhöfen. Ich sah ausgetrocknete Flussbetten und üppig bewachsene Ufer. Ich sah sterbende Tümpel und grüne Bäche. Manchmal war die Fahrt turbulent und ruppig, dann wieder ruhig und beschaulich.
Wie die Trauer hatte auch der Zug seinen eigenen Rhythmus, seine wechselnden Geschwindigkeiten und veränderlichen Bedingungen – beeinflusst vom Wetter, von einer guten oder weniger guten Wartung und von den Landstrichen, durch die wir fuhren. Manchmal schienen wir ganz langsam dahinzukriechen, und ich konnte mich ganz auf die Silos von Garden City oder die Antilopenherde im Comanche National Grassland konzentrieren. Dann wieder verwischte das hohe Tempo auch die majestätischsten Bäume, vermengte Farben und ließ Konturen verschwimmen.
An manchen Stellen auf der Strecke konnte eine einfache Weiche unsere Fahrtrichtung ändern, was mich daran denken ließ, wie wir uns bei einem Todesfall in Richtung Verdrängung oder Liebe wenden können, Richtung Trauer oder Verleugnung. In Tunneln war es manchmal so dunkel, dass absolut kein Licht mehr zu sehen war; auch die Trauer kennt solche Zeiten. Meine Augen brauchten Zeit, um sich daran anzupassen, aber dann konnte ich erkennen, was sich an diesen dunklen Orten befand. Manchmal hatte mein Handy Empfang, manchmal nicht; manchmal hatte ich eine Verbindung zur Außenwelt, dann wieder war jede Verbindung gekappt – wie auch bei der Trauer.
Beim Blick aus dem Fenster begann mir irgendwann auch der Kontrast zwischen Vor- und Hintergärten aufzufallen. Die Vorgärten imponierten mit sorgfältig gepflegtem Rasen und akkurat getrimmten Hecken, blitzsauberen Autos und leuchtend roten Fahrrädern. Die Hintergärten sahen aus wie Schrottplätze mit ausrangierten Dingen, die die Leute nicht mehr brauchten und nutzlos fanden. Was hinterm Haus lag, war unerwünscht, in Einzelteile zerlegt, kaputt oder in Vergessenheit geraten. Manches verrottete dort schon seit Jahren, lag sinnlos herum, aus den Augen, aus dem Sinn, manchmal mit einer Plane abgedeckt – aber immer noch da. Auch Trauer fühlt sich für viele an wie etwas, das zum „Gerümpel“ muss, ab in den Hinterhof, wo man nicht mehr an sie herankommt, wo sie unwichtig ist und keinen Einfluss mehr hat. Wir wollen diesen Plunder nicht, wir wollen ihn vergessen. Aber wie der erste Bundespräsident des wiedervereinigten Deutschlands, Richard von Weizsäcker, uns mit dem von ihm zitierten Sprichwort bereits mahnte: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil – und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ So ist es auch mit der Trauer.
Diese 5300 Kilometer, 140 Stunden dauernde Zugreise wurde zu einem Mikrokosmos meiner Arbeit: die Schaffung eines Raumes, in dem Trauer mit offenen Armen akzeptiert und geachtet wird und diese Anerkennung an erster Stelle steht. Mit diesem Buch lade ich Sie dazu ein, gemeinsam mit mir in die unzähligen Gesichter und Herzen der Trauer zu blicken, um zu unserer menschlichen Ganzheit zurückzufinden.
Joanne Kyouji Cacciatore
Sedona, Arizona, USA
1
Die Rolle der anderen in unserer Trauer
Und wir weinten, dass ein so wundervoller Mensch nur so kurz leben sollte. William Cullen Bryant
Ich lernte Kyles Mutter durch meine Arbeit mit trauernden Eltern kennen. Ihr 14-jähriger Sohn war von einem Querschläger getroffen und getötet worden. Auch wenn der Schuss nicht ihm gegolten hatte, so waren doch alle seine vierzehn Jahre ausgelöscht worden – durch einen Menschen, den man niemals finden und strafrechtlich verfolgen würde.
„Ich hasse Trauern! Ich will es nicht mehr! Sorgen Sie dafür, dass es aufhört! Es bringt mich um!“ Karen schrie und weinte auf dem Boden meines Büros, während ich im Schneidersitz still neben ihr saß. Sie vergoss so viele Tränen, dass sie auf ihre beige Leinenhose tropften und Flecken ihrer blauen Wimperntusche darauf verteilten, die sie – in dem Versuch, irgendwie ihre Verzweiflung zu verbergen – jeden Morgen bei der Arbeit trug. Karen war alleinerziehend und Kyle war ihr einziges Kind gewesen, ihr „Ein und Alles“. Der Tag, an dem er starb, veränderte ihr Leben und ihre Identität, sagte sie. Sie fühlte sich von anderen unter Druck gesetzt, damit abzuschließen, und wollte sich wieder „normal fühlen“.
Sie erzählte mir, wie ihr Cousin sie einem kinderlosen Kollegen als ebenfalls kinderlose Frau vorgestellt hatte. Das war für Karen eine Zäsur, die sie in die Isolation trieb. Ab diesem Moment sah sie sich nicht mehr als Mutter. Ihr Schlaf veränderte sich, sie hörte auf, in die Kirche zu gehen. Sie zog sich von Freunden zurück und fühlte sich in der Welt unsicher. Sie gab das Haus auf, in dem sie Kyle aufgezogen hatte, und zog in eine Wohnung in einem nahegelegenen Vorort.
Sechs Monate nach Kyles Tod kam Karen zu mir und wünschte sich von mir, dass ich ihr helfen würde, ihre Trauer zu „überwinden“ und „sich besser zu fühlen“. Es lag etwas Verzweifeltes in unserem Gespräch, das mir sehr vertraut war. Sie fantasierte darüber zu sterben, um bei Kyle zu sein. Sie wollte nicht wirklich sterben, sondern wünschte sich nur mit aller Kraft, die Zeit zurückzudrehen. Sie wollte Kyle zurück. Seine Rückkehr war das Einzige, das ihr ihren unheilbaren Schmerz nehmen würde. Körper, Geist, Herz und Seele waren im Protestzustand.
Oft sind wir kollektiv wie gebannt, wenn wir erfahren, dass jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist, wenn Todesfälle in den Medien thematisiert werden oder wenn ein Star stirbt. Diese Reaktion ist gang und gäbe, oft noch garniert mit öffentlichen Gefühlsergüssen und unpassenden Beileidsbekundungen wildfremder Menschen. Umgekehrt finden Todesfälle wie Kyles, die sich unter privateren, aber ebenfalls tragischen Umständen ereignen und nicht öffentlich bekannt werden, kaum Beachtung.
In Karens Fall waren mitfühlende Gesten der Anteilnahme nur von kurzer Dauer. Ihre Mutterrolle wurde nach dem verfrühten Tod ihres Sohnes verleugnet, sodass sie irgendwann an ihrem eigenen Herzen zweifelte. Sie fühlte sich weiterhin als Kyles Mutter, aber der ständige gesellschaftliche Druck führte schließlich dazu, dass sie nicht nur ihrer Mutterrolle misstraute, sondern auch ihren rechtmäßigen Gefühlen, ihrer Trauer. Niemand erinnerte sich mit ihr an Kyle. Niemand sprach über ihn oder erkannte ihre Trauer an.
Im scharfen Kontrast dazu waren die Leute völlig entsetzt, als Charlotte Helen Bacon in Newtown, Connecticut, schlagzeilenträchtig von einem Amokläufer getötet wurde, viele bekundeten ihre Trauer über ihren Tod, obwohl sie sie nie gekannt hatten.
In der Sandy Hook Elementary School wurden 20 Erstklässler und sechs Angestellte der Grundschule ermordet. Es war eine Horrorgeschichte, die über Monate und Jahre immer wieder von den Massenmedien aufgegriffen wurde. Viele Menschen, die persönlich vom Tod eines Kindes oder eines anderen geliebten Menschen betroffen waren, fühlten sich der unaufhörlichen Berichterstattung hilflos ausgeliefert.
Ich lernte Charlottes Eltern im Sommer 2014 kennen. Charlotte, ein kluges, mutiges und beharrliches Mädchen, das „ein bisschen frech“ СКАЧАТЬ