Название: Allgemeine Staatslehre
Автор: Alexander Thiele
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783846353813
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Zum anderen erscheint dieser allgemein-methodische Einwand deshalb fragwürdig, weil er die Allgemeine Staatslehre zwar besonders hart trifft, letztlich aber nicht weniger für das gesamte Öffentliche Recht gelten dürfte. Auch hier fehlt es an einer allgemein gültigen Rezeptionstheorie für die Integration außerjuridischer Erkenntnisse in die rechtswissenschaftliche Dogmatik (auch wenn es immer wieder gehaltvolle Vorschläge in dieser Hinsicht gegeben hat).[206] Muss die Jurisprudenz, muss das gesamte Öffentliche Recht |35|auf Erkenntnisse der Nachbardisziplinen verzichten, wenn es sich nicht dem Vorwurf der Methodenunreinheit ausgesetzt sehen will? Sind Hans Kelsens „Reine Rechtslehre“ und sein spezifischer Staatsbegriff der einzig gangbare Weg? Wäre ein solcher Verzicht – gerade im Verfassungsrecht – überhaupt denkbar?[207] Dieser alte Grundsatzstreit „um die Bedeutung philosophischer, historischer, ökonomischer und soziologischer Erkenntnisse für die dogmatische Jurisprudenz“,[208] wird heute kaum noch offen, geschweige denn mit solch emotionaler Kraft geführt, wie das zu Weimarer Zeiten der Fall war. Er hat sich aber nicht erledigt, das zugrunde liegende Problem harrt der Lösung, was sich gerade an den Vorwürfen zeigt, denen sich die Allgemeine Staatslehre ausgesetzt sieht. Bemerkenswert ist insofern weniger der Umstand, dass der Versuch einer Allgemeinen Staatslehre methodisch kritisiert wird – angesichts ihres ausdrücklich interdisziplinären Ansatzes wäre alles andere überraschend –, als vielmehr, dass entsprechende Vorwürfe gegenüber dem sonstigen Öffentlichen Recht in der Regel nur deshalb ausbleiben, weil die Rezeption extrajuridischer Erkenntnisse nicht offengelegt wird, allein implizit und damit zugleich mehr oder weniger willkürlich erfolgt. Immer wieder fließen Erkenntnisse anderer Disziplinen in die scheinbar „reine“ Jurisprudenz ein und müssen dies wohl auch: Wie sollte man zu angemessenen Ergebnissen bei der Auslegung der Schuldenbremse kommen, ohne ökonomische Erkenntnisse (wie auch immer) zu berücksichtigen? Ist eine Definition des Begriffs Preisstabilität (Art. 127 AEUV)[209] sinnvoll möglich, ohne die ökonomische Situation der Eurozone zu beachten? Wie soll der Stand der Technik im Umweltrecht bestimmt werden, ohne die Ingenieur- und Naturwissenschaften zu befragen? Wenn das Recht die gesellschaftliche Realität regeln soll, muss es diese dann nicht auch in irgendeiner Form zur Kenntnis nehmen? Mit ihrem explizit auf Rezeption und Zusammenführung angelegten Ansatz kann eine Allgemeine Staatslehre einen Beitrag leisten, diese methodische Herausforderung wieder auf die Tagesordnung zu setzen, sie transparenter zu machen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten, wie ihr begegnet werden könnte. Solange das Öffentliche Recht aber mit dieser offenen methodischen Flanke (aus welchen Gründen auch immer) weiterhin leben kann, kann es die Allgemeine Staatslehre auch.[210]
Fußnoten
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419. Siehe auch C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (353).
H. Willke, Ironie des Staates, S. 7. Siehe dazu auch A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (2).
N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 457f.
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419. Noch schärfer formuliert er später in „Der vermisste Leviathan“, S. 113: „Juristische Staatstheorie können wir uns heute weniger denn je als das große Buch denken, dass alles Wissen über ‚den Staat‘ zusammenbringt. Der Traum von einem solchen Buch verfolgt die Rechtswissenschaft zwar bis in die Gegenwart, doch war er schon zu Zeiten Georg Jellineks zu Beginn des 20. Jahrhunderts methodisch ausgeträumt.“
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 30ff.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 25: „Wer heute an die Untersuchung sozialer Grundprobleme geht, dem tritt sogleich der Mangel einer in die Tiefe dringenden Methodenlehre fühlbar entgegen.“
Vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1: „Eine Staatslehre passt nicht über den Leisten der ‚Methodeneinheit und Methodenreinheit‘.“
J. Lüdemann, Netzwerke, Öffentliches Recht und Rezeptionstheorie, in: S. Boysen u.a. (Hrsg.), Netzwerke, S. 266 (274).
Siehe zuletzt ausdrücklich R. Hirschl/J. Mertens, Interdisziplinarität als Bereicherung. An den Grenzen von Verfassungsrecht und vergleichender Politikwissenschaft, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 105ff.
V. Frick, Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand. Die Staats- und Verfassungsdebatten seit 1979, 2018.
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