Название: Allgemeine Staatslehre
Автор: Alexander Thiele
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783846353813
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Mit dieser weiterhin ordnenden Funktion des Staates hängt der zweite Einwand zusammen. In den letzten Jahren zeigt sich, dass ein beachtlicher Teil der skizzierten Steuerungsverluste auf einem freiwilligen Rückzug des Staates beruhte:[139] Es war der Staat, der Zuständigkeiten und Steuerungsmöglichkeiten abgab, nicht die Globalisierung, die sie sich nahm. Es handelte sich also um keinen natürlichen, passiven und unumkehrbaren Erosionsprozess, sondern um eine vornehmlich auf neoliberalen Vorstellungen beruhende, bewusste, aktive politische Entscheidung – getroffen von im Grundsatz voll funktionsfähigen (souveränen) Staaten.[140] Es erscheint damit schon |25|im Ansatz fraglich, ob es sich als sinnvoll erweist, von Souveränitätsverlusten zu sprechen, wo es häufig nur um die möglicherweise extern motivierte, aber formal gleichwohl freiwillige Abgabe von Hoheitsrechten geht und es an den Staaten selbst liegt, diese – sofern erwünscht – wieder rückgängig zu machen.[141] „Sie [die Globalisierung, A.T.] ist vor allem auch politisch gestaltbar, zähmbar“[142] und zwar, so wäre zu ergänzen, durch den stets vorhandenen Staat selbst. „Deglobalisierung“ ist möglich, da der Staat im Hintergrund weiterhin latent vorhanden ist (was im Übrigen auch von den neoliberalen Akteuren nicht geleugnet wird, wenn sie „bei jedem auffälligen Marktversagen, wie eben den einstürzenden Finanzmärkten, nach staatlicher Unterstützung“[143] rufen). Dass eine solche Rückgängigmachung nicht nur eine theoretische Option, sondern auch praktisch durchführbar ist, zeigte sich seit 2016 gleich mehrfach: Die USA verkündeten nicht nur den Austritt aus dem Klimaabkommen, sondern kündigten zudem Freihandelsabkommen oder stellten diese in Frage und setzen mit Donald Trump vermehrt auf unilaterale Entscheidungen und weniger auf internationale Kooperation. Und Großbritannien offenbarte, dass nicht einmal „auf Ewigkeit errichtete“ supranationale Organisationen vor dem (souveränen) Staat sicher sind.[144] Es hat mit Ablauf des 31. Januar 2020 (gefolgt von einer Übergangsphase)[145] die Europäische Union verlassen – einen im weltweiten Maßstab ohnehin rein regionalen Zusammenschluss:[146] „Taking back Control“, Wiedererlangung der |26|abgegebenen Hoheitsrechte (nicht aber der im Hintergrund stets vorhandenen Souveränität), bildete in beiden Fällen das Leitmotiv. Die Vorgänge in anderen Staaten zeigen, dass diese Beispiele Nachahmer finden könnten, da die sozialen Auswirkungen der Globalisierung zunehmend skeptisch gesehen und bisweilen heftig kritisiert werden. Hier wird man einen wesentlichen Grund für das Erstarken rechtspopulistischer Strömungen in den meisten demokratischen Verfassungsstaaten finden können. Ohnehin dürfte es kein Zufall sein, dass entsprechende Renationalisierungstendenzen gerade zu einem Zeitpunkt auftreten, in denen das international globalisierte (wirtschaftliche) System dem Versprechen weltweiter Prosperität bei sozialer Gerechtigkeit nicht in ausreichender Form nachkommt.[147] Große Teile der Bevölkerung wenden sich dann wieder zum Staat, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit – allerdings unter heute nicht mehr gültigen Rahmenbedingungen[148] – mit einer ausgewogenen Balance zwischen Markt und Sozialstaat schon einmal bewiesen hat, dass er diese Aufgabe zu bewerkstelligen vermag.[149] Die Rückkehr des Staates hängt insofern eng mit der defizitären (sozialen) Leistungsfähigkeit der sich seit den 90er Jahren entwickelnden internationalen Ordnung zusammen und hat damit (bei allem unseriösen und verstörenden „Getwittere“ eines Donald Trump) einen rationalen und nachvollziehbaren Ausgangspunkt. Die Legitimität jeder Herrschaftsordnung hängt unter anderem von (sozialen) Output-Elementen, von der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ab.[150] Es verwundert daher nicht, wenn der lange so vehement propagierte Rückzug des Staates auch „staatsintern“ zunehmend kritisch gesehen wird, da der Rückgriff auf die „effizienten Märkte“ auch hier nicht zu den Ergebnissen geführt hat, die man sich in sozialer Sicht möglicherweise erhofft hat – die Stichworte „Rekommunalisierung“ und „sozialer Wohnungsbau“ sollen an dieser Stelle genügen.
Man mag diese Wiederbelebung des (souveränen) Staates aufgrund der zu beobachtenden Abschottungstendenzen[151] ablehnen – der späte Zygmunt Baumann sprach kritisch von einem „Zeitalter der Nostalgie“[152] in das wir eingetreten sind – und daher für dessen Überwindung eintreten.[153] Allein |27|gegenwärtig ist der Staat weiterhin auch im Innern der bedeutendste politische Akteur,[154] oder mit Erhard Eppler: „Das nächstbessere Modell hat noch niemand entworfen“.[155] Es geht aktuell damit weniger um die Überwindung des modernen Staates als um die Einhegung eines destruktiven und autoritären Nationalismus,[156] der mit dem modernen Staat zwar zusammengehen kann, aber nicht zusammengehen muss[157] – das beweist der Blick in die Historie. Der Nationalismus ist wie der Nationalstaat eine Idee des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, als der moderne Staat längst etabliert war.[158] Gerade dem demokratischen Verfassungsstaat ist es zuzutrauen, die Geißel des feindseligen Nationalismus, dessen zerstörerische Kraft sich in zwei Weltkriegen und zahlreichen weiteren Auseinandersetzungen auf so schreckliche Weise offenbart hat,[159] dauerhaft zu zähmen. Unlängst hat Yascha Mounk dazu die Etablierung eines „inklusiven Patriotismus“ vorgeschlagen.[160] An anderer Stelle habe ich das Konzept des denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates entworfen, einen „Staat ohne Nation“, in dem Nation und Nationalismus als letzte sakrale Elemente von der staatlichen in die private Sphäre verbannt werden.[161] Die (wissenschaftliche und praktische) Überzeugungskraft dieser und anderer Konzepte wird sich zeigen. Erinnert sei aber daran, dass auch der säkulare demokratische Verfassungsstaat, der „Staat ohne Gott“,[162] über Jahrhunderte reifen musste. An dieser Stelle war allein darzulegen, dass die Überwindung des modernen Staates (wenn überhaupt) ein Zukunfts- und jedenfalls kein Gegenwartsthema ist, das gegen eine im Jetzt ruhende Allgemeine Staatslehre vorgebracht werden könnte. Der moderne Staat hat seine |28|Bedeutung als weltweiter politischer Primärraum noch nicht verloren und wird sie auf absehbare Zeit nicht verlieren. Wer sich schon Anfang der 90er Jahre auf dem Weg in eine friedvolle „post-hobbesianische“ politische Ordnung wähnte,[163] sieht sich getäuscht: „From the surge of populist discontent to the backlash against supranational courts and challenges to the mulitlateral architecture of the post-war international order, the demise of the state prophesied by earlier literature appears to have been, like the rumours about Mark Twain’s death, greatly exaggerated.“[164] So wie das vielzitierte „Ende der Geschichte“[165] ist auch das „Ende des modernen Staates“[166] zu früh ausgerufen worden[167] – dass beide Thesen im zeitlichen Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Krieges in einer Zeit der weitverbreiteten (aber mit Jan-Werner Müller keineswegs allgemein-umfassenden)[168] Hoffnung artikuliert und vertreten wurden, dürfte im Übrigen kein Zufall sein.
Eine moderne Allgemeine Staatslehre muss die geschilderten transformatorischen Veränderungen und den damit einhergehenden Wandel von Staatlichkeit,[169] den „Staat als Prozess“[170] selbstverständlich aufnehmen und verarbeiten.[171] Sie kommt nicht ohne Abschnitte zur Internationalisierung, zur Supranationalisierung[172] und zu gesellschaftlichen Machtverschiebungen aus[173] und muss sich zudem zu (vermeintlichen) globalisierungsbedingten Steuerungsverlusten verhalten:[174] Bedarf es als Antwort möglicherweise mehr |29|Supranationalisierung? Wie verhält sich die Abgabe von Befugnissen an entsprechende Organisationen zur Legitimität der staatlichen Ordnung? Wie können Verlierer der Globalisierung ansprechend entschädigt werden? Festzuhalten aber bleibt: Ihren Gegenstand als solchen hat die Allgemeine Staatslehre bisher nicht verloren,[175] die räumlich-fundierte Staatsgewalt hat ihre zentrale Bedeutung nicht eingebüßt.[176] Es geht mithin darum „den evidenten Wandel von Staatsaufgaben, des Staatsverständnisses, der Staatsfinanzierung und einzelner Staatsfunktionen usw. näher zu beschreiben und zu analysieren“[177] und, so wäre zu ergänzen, auch zu kritisieren. Welche Rolle kann ein gewandelter, „offener“ moderner Staat im Zeitalter der Globalisierung spielen und welche Rolle sollte er – auch und gerade für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung[178] – spielen? Diese Aufgabe kann der Allgemeinen Staatslehre schon deshalb gut gelingen, weil ihr zu keinem Zeitpunkt ein einheitlicher, abgeschlossener und Veränderungen nicht zugänglicher Staatsbegriff zugrunde lag. Wie Andreas Voßkuhle festgestellt hat, hätten weder Hermann Heller (Staat als organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit) noch Hans Kelsen (Staat als Rechtsordnung) größere Probleme damit gehabt, die geschilderten Entwicklungen in ihre Staatslehre zu integrieren.[179] Für Carl Schmitt oder auch Ernst Forsthoff gilt das freilich nicht.
Fußnoten
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