Die Soziologie Pierre Bourdieus. Boike Rehbein
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Die Soziologie Pierre Bourdieus - Boike Rehbein страница 8

Название: Die Soziologie Pierre Bourdieus

Автор: Boike Rehbein

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия:

isbn: 9783846347003

isbn:

СКАЧАТЬ Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung erwarben. In diesem Sinne blieb für ihn die Gesellschaft die Substanz der Individuen. Die Existenz ungleichzeitiger Gesellschaften in Algerien führte ihn jedoch zu einer Neubestimmung von Durkheims Konzeption. Die Menschen erwerben Bourdieu zufolge zwar ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung, aber diese Muster erweisen sich als träge, indem sie sich nicht gleichzeitig mit den sozialen Verhältnissen ändern. Die Gesamtheit der Muster ist eben der Habitus (siehe 3.1). Der Habitus wird von der Gesellschaft »eingepflanzt«, so dass ein Mensch sozial determiniert ist, aber nach seiner Einpflanzung entwickelt er eine eigene Dynamik, die nicht mit der Dynamik der Gesellschaft identisch ist. Der Habitus bestimmt das Denken, Wahrnehmen und Verhalten, aber er beinhaltet nicht die zukünftigen Bedingungen, auf die er reagieren muss. Die Bedingungen sind vielleicht determiniert, und der Habitus ist determiniert, aber ihr Zusammentreffen eröffnet verschiedene Möglichkeiten mit unterschiedlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten. Wenn sich die Gesellschaft nicht verändert, wirkt der Habitus determinierend. Denn die Bedingungen der Einübung sind auch die Bedingungen der Anwendung, das gegenwärtige Denken, Wahrnehmen und Verhalten ist mit dem zukünftigen identisch. Genau das behauptet Bourdieu von den Kabylen (1958: 22ff). Hätte er auf der Basis von Durkheim lediglich ethnologische Feldforschung betrieben, so hätte er den vorangehend skizzierten Gedanken kaum entwickeln können. Es ist wiederum die Vielfalt der Ansätze und Probleme, die ihn über Durkheim hinausführte.

      Bourdieu kam zum Ergebnis, dass die Familie der Kern und das Modell der gesamten kabylischen Gesellschaft sei (1958: 11, 20f). Das ist nicht überraschend, denn es gilt für die meisten oder vielleicht alle traditionalen Gesellschaften. In der kabylischen Gesellschaft würden, so Bourdieu, alle Verhältnisse nach dem Vorbild der Verwandtschaftsverhältnisse bestimmt, die Menschen könnten sich Beziehungen sogar nur nach diesem Muster vorstellen (1958: 21). Das Individuum sei zuerst und vor allem Mitglied einer Familie und sodann ein Mitglied der Gruppe (des Dorfes). Daher empfinde es die Regeln der Gemeinschaft nicht als Zwang, sondern als Teil seines eigenen Bewusstseins (1958: 22). Das Gemeinschaftsgefühl mache politische und rechtliche Institutionen überflüssig (1958: 24). Die Angst vor der Gemeinschaft – insbesondere vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft – sei bereits eine hinreichende Garantie für Konformität (1958: 22, 86). Mangelnde Konformität beschmutze das eigene Ansehen und sei ein Angriff auf die Gemeinschaft (1958: 25; 2000c: 46). Diese doppelte Sicherung bezeichnete Bourdieu als »Ehre« (1958: 23). Sie sei der einzige Verhaltenskodex.7 Tatsächlich aber sei die Ehre auch sozial abgestuft, und diese Hierarchie scheint mir eine wichtige zusätzliche Garantie der Konformität zu sein. Jede Familie habe einen Chef, ebenso jeder Clan und jeder Stamm (1958: 12, 61). Hierbei handelt es sich um die jeweils ältesten Männer. Sicherlich hatten auch die anderen Mitglieder der Gemeinschaft ihre eindeutig festgelegte (niedrigere) soziale Position (Rehbein 2004). Jede kabylische Großfamilie besitze ein Stück Land, meist ein bis zwei Hektar (1958: 11). Durch die Besitzgemeinschaft und die Anpassung des Konsums an den Jahreszyklus gebe es keinen Hunger. Da sich diese Verhältnisse prinzipiell nicht änderten, sei eine Ökonomie im Sinne eines vorausschauenden Kalküls unnötig und sogar sinnlos (1958: 11, 95; 2000c: 45).

      Diese Strukturen schienen nun auch dort erhalten zu bleiben, wo die Moderne Einzug hielt – wenn die Gemeinschaften zumindest teilweise fortbestanden. Dort erwarben die Algerier und Algerierinnen weiterhin ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von ihren Vorfahren, die kulturellen Werte würden mündlich übermittelt (1958: 83). Selbst in den Städten kümmerten sich die Menschen nicht um Produktivität, Effizienz und Gewinn, sie behielten den gewohnten Tagesablauf bei (1958, 55f). Was aber geschah dort, wo die traditionalen Gemeinschaften zerstört wurden oder wo der Druck zur Anpassung an die Moderne zu groß wurde? Aus den traditionalen Strukturen fielen vor allem die Menschen heraus, die eine Lohnarbeit finden mussten und nur instabile Beschäftigung fanden. Sie waren vereinzelt.

      »Der Mensch der ländlichen Gemeinschaften, der stark in gemeinschaftliche Bande verwoben ist, eng von den Alten angeleitet und von einer Fülle von Traditionen unterstützt wird, macht dem isolierten und hilflosen Herdenmenschen Platz, der aus den organischen Einheiten herausgerissen ist« (2003a: 26).

      Die Auswirkungen der Vereinzelung, des Kapitalismus, der Arbeitslosigkeit, der sozialen Differenzierung untersuchte Bourdieu in den Jahren nach dem Erscheinen der »Sociologie d’Algérie« genauer. Besser gesagt, er führte die begonnenen Detailuntersuchungen fort. In ihnen tritt sein Ansatz schon recht deutlich hervor, auch wenn seine Einsicht noch nicht ganz entfaltet ist. Er fand heraus, dass gerade der Wechsel von Arbeit und Arbeitslosigkeit die Traditionen zerstörte (1962b: 1039). Die Angst vor Arbeitslosigkeit bestimmte zunehmend das Denken und Handeln der städtischen Bevölkerung (1963: 268). Die in prekären Verhältnissen lebenden Menschen brachen mit der Tradition, obwohl sich ihre Lebensweise auf den ersten Blick nicht von der traditionalen unterschied: unregelmäßiger Wechsel von Arbeit und »Freizeit«, keine Planung der Zukunft, keine Ersparnisse, keine Reflexion auf die Bedingungen und erst recht keine Bemühung zur Veränderung der Bedingungen (1962b). Unter den oberflächlichen Ähnlichkeiten verbargen sich jedoch grundlegende Differenzen: Die traditional Lebenden waren immer »beschäftigt«, auch wenn sie nicht arbeiteten, sie waren in eine Gemeinschaft integriert, sie mussten für ihren Lebensunterhalt keine Schulden machen, sie brauchten sich nicht um ihre Zukunft zu kümmern, während die Tagelöhner, Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten nicht für ihre Zukunft sorgen konnten, unehrenhaft Schulden machen mussten und vereinzelt waren (ebd.). Da sie nicht für die Zukunft planen konnten, entwickelten sie auch kein kapitalistisches Kalkül. Das war nur den Unternehmern und den stabil Beschäftigten möglich (siehe unten; vgl. Rehbein 2004). Hier sah Bourdieu die entscheidende Trennlinie in der algerischen Gesellschaft, zumindest in der städtischen. Sie ließ sich genauer bestimmen als Differenz zwischen fester Stelle und Gelegenheitsarbeit. Quantitativ ermöglichte erst ein Einkommen über 600 Francs eine rationale Planung der Zukunft und damit ein kapitalistisches Kalkül (1963: 361ff). Die Trennlinie wird in Abbildung 1 veranschaulicht. Menschen oberhalb der Trennlinie nahmen die kapitalistische Denkweise an und wiesen den geringsten Unterschied zwischen Ideologie und Verhalten auf. Dennoch machte sich auch bei ihnen noch die Trägheit des traditionalen Habitus bemerkbar. Die Menschen kehrten jederzeit zu wirklichen oder vermeintlichen Traditionen zurück, wenn die kapitalistischen Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten verschwanden (1963: 366).

      Der Kapitalismus entwickelte sich also nicht gleichmäßig. Man konnte nicht einmal sagen, dass er auf dem Land langsam und in der Stadt schnell entstand. Eher entwickelte er sich in verschiedenen Klassen unterschiedlich schnell, genauer gesagt: die Entwicklung hing von den Existenzbedingungen der Menschen ab (2000c: 24f). Bourdieu führte das kapitalistische Denken also nicht auf einen Geist und nicht auf eine Klasse zurück, aber auch nicht auf ein Bündel kultureller Merkmale. Er unterschied mehrere Klassen mit unterschiedlich ausgeprägtem kapitalistischen Denken, das wiederum der individuellen Laufbahn und den jeweiligen Bedingungen entsprechend noch einmal variierte.

      »Da alles Verhalten das Resultat einer Transaktion zwischen Muster und Situation ist und die Individuen gemäß ihren Fähigkeiten und ihrem Zustand mit sehr unterschiedlichen Situationen konfrontiert sind, wird das System der Verhaltensmuster, das gemeinsame Erbe, tendenziell durch Systeme ersetzt, die für jede Klasse spezifisch sind« (1963: 382; eigene Übersetzung).

      Als »Faktoren der Differenzierung« wirken sich dabei die ökonomische Notwendigkeit, die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, der Kontakt mit der europäischen Gesellschaft, das Einkommen, das Bildungsniveau und die Ideologie der Klasse aus (ebd.). Diese Gedankenfigur kommt der entfalteten Einsicht und dem Ansatz des reifen Bourdieu schon recht nahe.

      Auf der Basis seiner »Faktoren der Differenzierung« unterschied Bourdieu in der städtischen Gesellschaft Algeriens vier Klassen: Subproletariat, Proletariat und Semiproletariat (neue Arbeiter und traditionelle Arbeiter), Kleinbürgertum, Bourgeoisie (1963: 365ff). Die Klassen bestimmten sich also nicht allein – wie bei Marx – durch ihren Besitz an Produktionsmitteln, aber auch nicht allein nach ihrem Einkommen. СКАЧАТЬ