Название: Die Soziologie Pierre Bourdieus
Автор: Boike Rehbein
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783846347003
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Das allgemeine Werk erschien 1958, gleich nach Beendigung des Militärdienstes, in der renommierten Reihe »Presses universitaires de France« (PUF – die UTB in Deutschland vergleichbar ist) unter dem Titel »Sociologie d’Algérie«. Später hielt Bourdieu seinen wissenschaftlichen Anspruch dieser Zeit für vermessen. Das Buch selbst bezeichnete er als »die schlechte Strategie eines outsiders«, der die Regeln der akademischen Welt nicht kennt (1992b: 24). Nach dem Militärdienst blieb Bourdieu in Algier, wo er bis 1960 eine Assistentenstelle an der Universität erhielt. Diese Anstellung verschaffte ihm die Möglichkeit, seine Forschungen fortzuführen und zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Er begann mit ethnographischen Studien, weitete den Bereich seiner Begriffe, Methoden und Instrumente aber rasch aus. Es entbrannte in ihm ein unstillbarer Wissensdurst (2002b: 55). In den folgenden Jahren arbeitete er täglich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, verschlang unzählige Bücher und versuchte, alle Aspekte der algerischen Gesellschaft zu ergründen. Er sagte sich unentwegt: »Armer Bourdieu, mit den armseligen Instrumenten, die du hast, bist du der Sache nicht gewachsen, man müsste einfach alles wissen und alles verstehen, die Psychoanalyse, die Ökonomie …« (2003b: 36) Die Mittel der Wissenschaft sollten ihn in die Lage versetzen, die Wirklichkeit zu verstehen. Sie sollten ihn aber auch vor ihr schützen, ihm Halt geben und ihn vor den Versuchungen der Ideologie bewahren. Ein prinzipielles Vertrauen in die Wissenschaft behielt er sein Leben lang bei. Er schloss sich den Mitarbeitern des französischen Statistikamts (INSEE) an, die in Algerien arbeiteten. Mit ihnen führte er eine groß angelegte Fragebogenerhebung über die algerischen Haushalte durch. Mit einem algerischen Intellektuellen, Abdelmayek Sayad, schloss er enge Freundschaft. Gemeinsam wandten sie sich der qualitativen Forschung zu. Ferner beschäftigte sich Bourdieu mit Max Weber, übersetzte Teile seiner »Protestantischen Ethik« (in 1988; zuerst 1920) und übertrug ihre Fragestellung auf Algerien. Er arbeitete gewissermaßen an allen Fronten gleichzeitig. Die Grundzüge seiner Soziologie entwickelten sich im Zusammenhang mit dieser Arbeit.
Vom ersten bis zum letzten in Algerien entstandenen Buch ist eine gedankliche Entwicklung und eine thematische Verschiebung festzustellen, obwohl alles Spätere zumindest ansatzweise im ersten Werk enthalten ist. Das ist nicht verwunderlich, weil Bourdieu nahezu gleichzeitig an allen Schriften arbeitete. Die Gleichzeitigkeit zeichnete seine Arbeitsweise aus. Dadurch gewinnen seine Werke nicht nur ihren ungewöhnlichen Reichtum und Tiefgang, sondern auch einen inneren Zusammenhang, der durch Bourdieus ständige wissenschaftstheoretische Reflexion noch verstärkt wird. Hierzu gesellt sich der Umstand, dass Bourdieu fast alle Schriften in Gemeinschaftsarbeit produzierte. Er selbst garantierte ihren inneren Zusammenhang, während die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in immer wechselnden Kombinationen beteiligt waren, zu ihrer Vielfalt beitrugen (siehe Einführung zum nächsten Kapitel).
1.1 Einsicht: Ungleichzeitigkeit
Die Beschäftigung mit der algerischen Gesellschaft führte Bourdieu zur Soziologie. Nach seinen ersten ethnographischen Studien beschäftigte er sich mit Max Webers »Protestantischer Ethik« (in 1988). Die Frage nach den Bedingungen der Entstehung des Kapitalismus, die Weber am historischen Material untersucht hat, konnte Bourdieu an die algerische Gegenwart richten. Damit befand sich Bourdieu im Zentrum der Soziologie. Die Soziologie entwickelte sich als Disziplin großenteils durch das Bemühen, die Entstehung des Kapitalismus und ihre Folgen theoretisch einzuholen. Sie erwuchs gleichsam aus der Entfaltung des Marktes und der Wirtschaftswissenschaften. Der Kapitalismus bildete nicht nur das Kernproblem der frühen soziologischen Klassiker (insbesondere Marx, Durkheim, Simmel und Weber), sondern kann auch heute noch als Horizont der soziologischen Arbeit gelten.
Bourdieu reiht sich in dieser Hinsicht nahtlos in die Folge der Klassiker ein. Er wandelte sich vom Philosophen zum Soziologen, als er in Algerien die Ausbreitung des Kapitalismus unmittelbar vor Augen geführt bekam. Er erkannte, dass die sozialen Probleme nicht nur aus dem Kolonialkrieg erwuchsen, sondern auch aus der Konfrontation zweier unvereinbarer Wirtschaftsweisen, besser gesagt: aus der Verdrängung einer »traditionalen« Wirtschaft durch eine kapitalistische. Aus der Untersuchung dieser Frage wollte er nicht nur etwas über Algerien lernen, sondern auch Erkenntnisse über den Kapitalismus insgesamt gewinnen (2003a: 43). Er erkannte, dass die algerische Gesellschaft höchst unterschiedlich vom Kapitalismus durchdrungen war und die soziale wie ökonomische Ungleichheit mit der Ausbreitung des Kapitalismus zunahm. Bourdieu versuchte nun, alle Aspekte des Phänomens zu untersuchen. Er beschäftigte sich mit Unterschieden in der Arbeitsmoral, im ökonomischen Denken, im Konsumverhalten, mit Klassenstrukturen, Klassenbewusstsein, Lebensführung und vielem mehr. Die zahlreichen Arbeiten, die ab 1958 in rascher Folge erschienen, enthalten seine wichtigsten Forschungsergebnisse. Für sich wären sie wertvolles und höchst interessantes wissenschaftliches Material, höben sich von der Masse soziologischer Literatur jedoch kaum ab. Zwei Aspekte kamen zusammen, um den »Kristallisationskern« zu bilden, der die neuartige und wegweisende soziologische Theorie Bourdieus ermöglichte. Ein Aspekt war Bourdieus Position zwischen den Disziplinen, Ideologien und sozialen Welten, der andere war eine wissenschaftliche Einsicht.
In Algerien entwickelte Bourdieu eine eigene Fragestellung. Man kann sie als entwicklungssoziologisch oder wirtschaftssoziologisch bezeichnen. Aber Bourdieu beschäftigte sich kaum mit den Diskussionen, die in diesen Bereichen geführt wurden. Vielmehr übertrug er die ethnologischen Methoden auf die Fragestellung Max Webers, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit kapitalistisches Handeln möglich ist. Aus dieser Kombination entwickelte sich Bourdieus Frage. Sie wurde dadurch ermöglicht, dass er nicht den vorgezeichneten Wegen folgte, sondern völlig disparate und unzusammenhängende Bereiche miteinander verband. Er selbst meinte später, die Eigentümlichkeit seines Ansatzes sei dadurch ermöglicht worden, dass die Frage nach der Entstehung des Kapitalismus in Algerien weder von der Ethnologie noch von der Soziologie besetzt gewesen sei (2003a: 45). Ende der Fünfzigerjahre sei die Soziologie für die Industrienationen, die Ethnologie für die anderen zuständig gewesen; Orientalismus und philologische Orientierung prägten die Auseinandersetzung mit Algerien (ebd.: 40). Daher konnte er sich »frei« bewegen. Als Philosoph kam er nach Algerien, um dort als Soldat zu dienen. Als Soldat entdeckte er die Leiden der Algerier unter der Kolonialherrschaft. Um die Leiden zu verstehen, bediente er sich ethnologischer Methoden. Diese Methoden wandte er auf eine soziologische Fragestellung an, die sich in eine kulturtheoretische verwandelte. Daraufhin bediente er sich quantitativer soziologischer Methoden. All diese Momente gingen in sein Denken ein und verbanden sich später zu seiner soziologischen Theorie.
Bourdieu selbst hat immer wieder deutlich gemacht, dass er die ausgetretenen Pfade mied. Ein wenig Ehrgeiz, wissenschaftliches Neuland zu betreten, wird dabei eine Rolle gespielt haben. Ein größeres Gewicht aber dürfte seiner eigentümlichen Laufbahn zukommen, die ihn dazu bestimmte, sich in jeder Umgebung fremd zu fühlen. In seinem »Selbstversuch« (2002b) erklärt er das Phänomen sehr plausibel in Begriffen seiner eigenen Theorie. Seine Denkrichtung, so Bourdieu, habe sich vor allem durch intellektuelle Abneigungen und Verweigerungen ergeben, die er selten benannt habe, beispielsweise gegen de Sade, Bataille und Klossowski (2002b: 10). Die Abneigung gegen einige Denker führte nicht dazu, dass er sich anderen anschloss. Vielmehr fühlte er sich in keiner Schule zu Hause. Sein früh entwickelter Eigensinn zeigt sich beispielsweise darin, dass er bereits in seinem ersten Buch, »Sociologie d’Algérie« (1958) die Unterdrückung der Frau konstatierte, für ein soziologisches Problem hielt und als solches analysierte (1958: 14f, 86). Das Thema war seinerzeit keineswegs in Mode und schon gar nicht mit akademischen Weihen gesegnet. Dennoch widmete ihm Bourdieu 1962 einen eigenen Aufsatz. Und als es später in Mode kam, bewies Bourdieu СКАЧАТЬ