Название: Die Soziologie Pierre Bourdieus
Автор: Boike Rehbein
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783846347003
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Eine gewisse Veränderung des traditionalen Habitus gelang in zwei Bereichen. Den ersten bildete der Konsum. Die Algerier kannten von der europäischen Lebensweise in erster Linie den Luxus, den sie in der Folge ebenfalls begehrten. Sie waren »kapitalistische Konsumenten, bevor sie kapitalistische Unternehmer« werden konnten (1963: 372; eigene Übersetzung). Diese Veränderung konnte in allen Klassen geschehen, am ehesten aber natürlich bei Menschen, die engen Kontakt mit der europäischen Bevölkerung hatten. Den zweiten Bereich der Veränderung bildete die europäische Arbeitswelt, insbesondere das Unternehmertum. Hierbei spielten das Militär und die Emigration eine nicht zu vernachlässigende Rolle (2000c: 14).11 Allerdings gab es kaum algerische Unternehmer, da den Algeriern Kapital, Wissen und Führungsqualitäten fehlten (1963: 375). Im Handel und Handwerk hingegen blieben die traditionalen Verhaltensmuster noch weit gehend erhalten, weil der ökonomische Druck fehlte (1963: 376). Der gesellschaftliche Aufstieg gelang also in erster Linie Menschen mit engem Kontakt zu Europäern, einer gewissen Bildung und Kenntnis der französischen Sprache (2000c: 116f). Nur diesen Menschen schrieb Bourdieu ein revolutionäres Potenzial zu, weil sie mit den Europäern auf einer Ebene kommunizieren und realistische Forderungen erheben konnten.12 Das Subproletariat konnte nur mit einer Sprache reagieren, die nicht mit seiner Wirklichkeit verknüpft war und nicht von ihm selbst stammte (2000c: 97f). Ferner hatten die von ökonomischer Not geprägten Menschen keinen Blick für das Ganze, sondern nur für ihre unmittelbare Not (2000c: 101).
»Mit einer Dauerstellung, geregeltem Lohn und mit dem Auftauchen realer Aufstiegsperspektiven kann ein weltliches, offenes und rationales Bewusstsein entstehen. Dann sieht man, wie die Widersprüche zwischen den maßlosen Erwartungen und den verfügbaren Möglichkeiten schwinden, zwischen den auf imaginärer Basis geäußerten Meinungen und den wirklichen Haltungen. Die Handlungen, Wertungen und Erwartungen sind einem Lebensplan untergeordnet. Dann, und nur dann, kann die revolutionäre Haltung die Flucht in den Traum ersetzen, die fatalistische Resignation oder das wütende Ressentiment […] Beschäftigungsstabilität und sicherer Lohn sind die Voraussetzung für den Zugang zu modernen Wohnformen, für die Gewöhnung an diese und für eine Lebensweise mit elementarem Komfort. Weil sie [die dauerhaft Beschäftigten] ihr Berufsleben mit der industriellen Gesellschaft in Kontakt bringt, konnten sie ferner moderne Techniken, Verhaltensmodelle und Ideale annehmen und integrieren« (2003a: 36).
Auf dem Land waren die Folgen ähnlich vielfältig wie in der Stadt. In den Tälern, wo sich der Kontakt mit der kapitalistischen Gesellschaft unmittelbar vollzog, wurden die traditionalen Strukturen zerstört. Teilweise aber blieben sie erhalten, und zwar genau dort, wo die Menschen weiterhin als Bauern ihren eigenen Boden bestellten (1964a: 30, 76). Je mehr Familienmitglieder eine Lohnarbeit hatten oder suchten, desto mehr erodierten die alten Strukturen. Im Bergland war der Kontakt mit der kapitalistischen Gesellschaft weniger unmittelbar, so dass die alten Strukturen hier eher fortbestanden. Der traditionelle Gegensatz zwischen Berg- und Talbewohnern wurde dadurch noch verstärkt (1964a: 30).13 Eine weitere Folge war die Entstehung des kapitalistischen Denkens, das Max Weber auch als »Geist des Kapitalismus« bezeichnet hat. Bourdieus Untersuchungen dazu ist der folgende Abschnitt gewidmet.
1.3 Der Geist des Kapitalismus
Bourdieu hat schnell erkannt, dass sich der »Geist des Kapitalismus« kulturell und sozial nicht einheitlich verbreitete. Wie aber der vorkapitalistische Geist aussah, war weit schwieriger zu ermitteln. Er brauchte viele Jahre, um zu erkennen, dass seine – auch für uns heute selbstverständlichen – Vorstellungen von Wirtschaft bei den Kabylen und zahlreichen anderen Algeriern völlig unbekannt waren. Ökonomische Verhaltensweisen, Denkmuster und Akteure sind historisch erst im Laufe einer komplexen Entwicklung entstanden und nicht in der »menschlichen Natur« angelegt (2000c: 7f). Im Frühstadium der kapitalistischen Entwicklung waren Verhaltensmuster erforderlich, die Max Weber als »asketisch« und »protestantisch« bezeichnete, also Vorsorge, Abstinenz und Sparsamkeit, während im entfalteten Kapitalismus Kredit, Konsum und Genuss an ihre Stelle getreten sind (2003c: 22). Die Wirtschaftswissenschaft setzt einen bestimmten Typ des homo oeconomicus stets voraus, ohne seine historische, soziale und kulturelle Bedingtheit zu untersuchen. Daher bezeichnet Bourdieu sie als »die moralischste der Moralwissenschaften« (ebd.).14 Ein rationales, kalkulierendes Denken und Verhalten wird von ihr eher gefordert als empirisch aufgewiesen.
Wie passte sich nun das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Algerier an die kapitalistische Wirtschaft an? Bourdieu wollte diese Frage nicht im Anschluss an Max Weber »subjektivistisch« untersuchen, für den das Verstehen von Motiven und Zielen ein wichtiger Bestandteil der Methode war (1963: 315). Für Bourdieu reichte es, die Entstehung eines rationalen Kalküls als bloße Reaktion auf einen Zwang zu untersuchen. Der Kapitalismus wurde den Algeriern von den Kolonialherren aufgezwungen. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als auf ihn zu reagieren. Das schien Bourdieu eine gute methodische Voraussetzung zu sein, um den »Geist des Kapitalismus« zu untersuchen.
»Da sich in unseren Gesellschaften das ökonomische System und die Einstellungen in relativer Harmonie befinden, übersieht man leicht, dass das ökonomische System sich als Feld objektiver Erwartungen darstellt, die von Subjekten nur erfüllt werden können, wenn sie über einen bestimmten Typ ökonomischen, allgemeiner: zeitlichen, Bewusstseins verfügen.« (1963: 316; eigene Übersetzung)
Hinter diesem Satz lässt sich erneut Bourdieus Einsicht erahnen. Das Individuum wird in eine soziale Welt eingeübt. Aus diesem Grund ist es an deren Strukturen und Erfordernisse (»objektive Erwartungen«) angepasst. In Algerien war das nicht mehr der Fall. Daher konnte man sowohl die Anpassungsprozesse als auch die Strukturen (die Erwartungen) besonders klar erkennen. Dass auch hierbei eine Form des Verstehens zum Tragen kam, gestand Bourdieu erst in seinem Spätwerk zu (vgl. 1997b). In Algerien meinte er noch, den Gegenstand durch den Einsatz objektivistischer Instrumente erschöpfend bearbeiten zu können.15
Den Kern von Bourdieus Forschung in Algerien bildete die Einsicht in die Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Strukturen. In diesem Zusammenhang erlangt der Begriff der Zeit in zweierlei Hinsicht eine zentrale Bedeutung. Erstens enthält die Beobachtung der Ungleichzeitigkeit zwischen kapitalistischen und traditionalen Strukturen den Keim von Bourdieus Einsicht. Zweitens unterscheiden sich kapitalistischer und traditionaler Habitus in erster Linie durch ihre Verfügung über die Zukunft. Der ökonomische Habitus hängt von der objektiven Zukunft seiner Gruppe und der Einschätzung von dieser Zukunft ab (1963: 346, 382). Das Verhältnis zur Zeit untersuchte Bourdieu noch genauer. Er ermittelte eine unterschiedliche Einstellung bei Bauern, Subproletariern, Arbeitern und Kapitalisten. Die Vorstellung eines ökonomischen Werts der Zeit war der algerischen Tradition völlig fremd (1962b: 1031). Alles hatte seine Zeit (2000c: 56ff). Man war immer beschäftigt, aber man arbeitete nicht: Was getan werden musste, wurde getan, gemäß dem Lauf der Zeit (1964a: 78, 157). Im Frühjahr sät man, im Herbst erntet man, bei Regen hängt man die Wäsche ab usw. »Tatsächlich ist der vorkapitalistischen Wirtschaft nichts fremder als die Vorstellung von einer Zukunft als einem Feld des Möglichen, dessen Erforschung und Beherrschung dem Kalkül anheim gestellt wäre.« (2000c: 32) Genau diese Vorstellung aber ist für kapitalistisches Handeln unerlässlich. Wie verhielten sich nun die verschiedenen Gruppen der algerischen Gesellschaft zu ihr?
Die Bauern behielten weit gehend ihre traditionelle Einstellung zur Zeit bei. Die Zeit hatte kein rationales Maß und keinen СКАЧАТЬ