Die Soziologie Pierre Bourdieus. Boike Rehbein
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Название: Die Soziologie Pierre Bourdieus

Автор: Boike Rehbein

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия:

isbn: 9783846347003

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СКАЧАТЬ selbst ausdrückte. Ein Landjunge hatte es auf den begehrtesten Soziologie-Lehrstuhl ganz Frankreichs gebracht. Bourdieu betonte immer wieder, dass er sich im akademischen Umfeld fremd fühlte. Die Verhaltens- und Denkweisen seiner Kolleginnen und Kollegen, die ihnen zur zweiten Natur geworden waren, betrachtete er mit innerer Distanz. Die selbstverständlichen Modi wissenschaftlichen Arbeitens, von der passiven Lektüre über die Zitierweise bis hin zur monologischen Forschung, waren ihm gerade nicht selbstverständlich. Er prüfte die Begriffe, Denk- und Verhaltensweisen, die er gelernt hatte, immer wieder mit kritischem Blick und Distanz. Eben das ist mit Selbstreflexivität gemeint. Im Laufe der Zeit wurde die Selbstreflexion theoretischer, indem Bourdieu sie mit seiner soziologischen Theorie auflud. Er betrachtete also sein eigenes Tun, wie er das der anderen sozialen Akteurinnen und Akteure betrachtete – und in gewisser Weise auch umgekehrt.

      Einem Menschen wie Bourdieu fliegen nur wenige Herzen zu. Die Zuneigung seiner Umgebung hat er sich im wahrsten Sinne erarbeitet. Wer ihn nämlich bei der Arbeit erlebt hat, musste beeindruckt sein. Es ging ihm um die Sache, nicht um seine eigene Person. Gleichzeitig waren ihm alle Menschen seiner Umgebung in ihren persönlichen Anliegen wichtig. Und schließlich – um diese fast pathetische Heranführung abzurunden – konnte man sich seinem moralisch-politischen Impuls kaum entziehen, der sich durchaus in Marx’ Forderung verbalisieren lässt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx 1976: 385). Und wer von Bourdieus Feuer erst einmal angesteckt war, konnte es schwerlich wieder ersticken. Es kam nur vor, dass die Besessenheit, mit der Bourdieu seine Forschung verfolgte, Menschen in seiner Umgebung die Luft zum Atmen nahm. Die anderen seiner Schülerinnen und Schüler, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mit seinem Tod 2002 einen »Vater«, ein Vorbild und einen Freund verloren. Die Stelle, die er im Raum einnahm, ist leer geblieben. So scheint es angemessen.

      Das Buch ist großenteils systematisch aufgebaut, bemüht sich aber darum, die Systematik mit Bourdieus Denkweg zu verknüpfen. Die ersten sieben Kapitel markieren Schritte in Bourdieus Denken, die teilweise gleichzeitig begonnen und teilweise gleichzeitig durchgeführt wurden, wobei das achte Kapitel sich auf die Rezeption seiner Forschung bezieht. Obwohl Bourdieus Werk eine außergewöhnliche Einheit aufweist, werden Grundbegriffe und Theoreme selten in zwei Arbeiten genau gleich vorgebracht, weil die jeweilige Stoßrichtung unterschiedlich war. Das ist ein sachlicher Grund dafür, nicht beliebig Zitate aus verschiedenen Arbeiten miteinander zu kombinieren und zur gegenseitigen Erläuterung heranzuziehen. Einige Missverständnisse in der Sekundärliteratur erwachsen aus dieser philologischen Unbekümmertheit, die durch die Einheitlichkeit von Bourdieus Werk gefördert wird. Im Folgenden soll vorsichtiger operiert werden. Die jeweiligen Denkschritte werden fast ausschließlich an einzelnen Arbeiten oder an Arbeiten aus derselben Periode demonstriert. Das gilt etwas weniger für die Kapitel zwei und drei, in denen die erkenntnistheoretischen und begrifflichen Grundlagen erläutert werden. Aber auch die Abschnitte dieser beiden Kapitel konzentrieren sich jeweils auf ein Buch und ziehen weitere Arbeiten nur heran, um die Weiterentwicklung von Bourdieus Denken darzulegen. Das Vorgehen bringt mit sich, dass einige bedeutende Werke Bourdieus nicht ausführlich diskutiert werden, allen voran »Die Regeln der Kunst« (1999) und die »Meditationen« (2001f).

      Das erste Kapitel versucht, die Geburt wesentlicher Gedanken Bourdieus in Algerien nachzuzeichnen, wo er seine ersten Forschungen durchgeführt hat. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die er in Grundzügen nach seiner Rückkehr aus Algerien ausgearbeitet hat. Im ersten Theorieentwurf Bourdieus sind die meisten der Grundbegriffe enthalten, die im dritten Kapitel skizziert werden. Die folgenden drei Kapitel resümieren Bourdieus Forschungen zu drei wichtigen Themengebieten: zum Bildungswesen, zu den Lebensstilen und zum symbolischen Universum. Das fünfte Kapitel (zu den Lebensstilen) ist hauptsächlich ein Kommentar der »Feinen Unterschiede«. Das siebte Kapitel ist Bourdieus politischer Soziologie (oder soziologischer Politik) gewidmet, die sein letztes Lebensjahrzehnt charakterisiert. Im letzten Kapitel wird die Rezeption seiner Werke, insbesondere in Deutschland skizziert. Dabei wird auch gezeigt, wie man mit Bourdieu arbeitet und arbeiten kann. Jedes Kapitel beginnt mit einer Einführung, die in den ersten Kapiteln eher der Lebensgeschichte Bourdieus, danach eher dem Zusammenhang zwischen den Gedanken und Kapiteln gewidmet ist. Der Hauptteil jedes Kapitels gliedert sich in mehrere Abschnitte, die sich auf ein Thema oder ein Werk konzentrieren.

      Man könnte bildlich sagen, das Buch entfalte sich und ziehe sich wieder zusammen. Es geht aus von Bourdieus Begegnung mit dem Kolonialismus, aus der seine Soziologie erwuchs, und schließt im siebten Kapitel mit seiner Kritik an einer gegenwärtigen Form des Kolonialismus. Die Kapitel zwei und sechs beziehen sich auf den Bereich des Symbolischen, das zweite Kapitel auf die Theorie, das sechste auf die Praxis. In den Kapiteln drei und fünf werden die wichtigsten Begriffe Bourdieus erläutert, im früheren abstrakt, im späteren in Verbindung mit dem empirischen Material. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Angelpunkt der bourdieuschen Soziologie, der Lehre von der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Die Kapitel greifen ineinander und kommunizieren gleichsam unterirdisch miteinander, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden. Allerdings sollte – wie bei Bourdieu – kein Satz ohne das Ganze des Buches als absolut und uneingeschränkt gültig verstanden werden.

      Die Bücher Bourdieus werden nach dem Erscheinungsjahr zitiert – möglichst aus der deutschen Übersetzung. Die Verweise in Klammern enthalten Jahreszahlen (und zumeist Buchstaben), die sich auf die Literaturliste am Ende des Buches beziehen. Zitate sind – moderat – der neuen Rechtschreibung angepasst, um den Lesefluss zu erleichtern. Ein »Fn« nach der Seitenzahl bedeutet, dass sich die entsprechende Stelle in einer Fußnote findet. Bourdieus Auffassungen werden um der Lesbarkeit willen nicht durchgehend im Konjunktiv wiedergegeben. Damit hängt auch ein häufiger Zeitenwechsel zusammen. Von der in Vergangenheitsformen referierten Lebensgeschichte wird zur Darstellung der Soziologie im Präsens übergegangen – und zurück. Die Grenzen sind dabei fließend. Aus stilistischen Gründen habe ich nicht immer neben der männlichen auch die weibliche Form benutzt. Das wird aus dem Zusammenhang ersichtlich.

      Für die Lektüre des Manuskripts und kritische Anmerkungen danke ich Gerhard Fröhlich, Rolf-Dieter Hepp, Karsten Kumoll, Gernot Saalmann und Kai Thyret. Zahlreiche Aspekte dieses Buches habe ich mit verschiedensten Menschen besprochen, deren Anregungen und Informationen auf die eine oder andere Weise in den Text eingegangen sind. Hierfür danke ich Carina Braun, Patrick Champagne, Gunter Gebauer, Remi Lenoir, Jochen Rehbein, Franz Schultheis, Kristina Schulz, Michael Vester, Loïc Wacquant und Anja Weiß. Danken und gedenken will ich an dieser Stelle der 2005 verstorbenen Steffani Engler. Des Weiteren danke ich Joseph Maran und den Teilnehmern und Teilnehmerinnen am Jahresprojekt über »Zeichen der Herrschaft« (Heidelberg/Freiburg). Auch meine Lehrveranstaltungen waren in dieser Hinsicht förderlich. Mein ganz besonderer Dank gilt allen Studierenden, die im Sommersemester 2005 mein Seminar über Bourdieu an der Universität Freiburg besucht und ihre Auffassungen eingebracht haben. Das Seminar war Grundlage der ersten Auflage dieses Buches.

      1 Von der Praxis der Ökonomie zur Ökonomie der Praxis

      Das Kapitel zeichnet die Entstehung von Bourdieus Soziologie in Algerien nach. Ohne die Ursprünge dieser Soziologie zu kennen, ist es schwer zu verstehen, warum sie später genau die Gestalt annahm, in der sie heute bekannt ist. Es ist durchaus angemessen, die algerischen Schriften als »Kristallisationskern« der gesamten Theorie Bourdieus zu bezeichnen (Schultheis 2000: 65; 2003a: 26).1 Die Theorie hat sich, so Schultheis, »spiralförmig« um diesen Kern entwickelt. Tatsächlich weisen die algerischen Schriften selbst eine derartige Entwicklung auf. Um die Entwicklung bildlich zu beschreiben, ist vielleicht ein Terminus passender, der von Bourdieu in seinem ersten Buch verwendet wird und gleichzeitig seine Vorstellung der sozialen Welt gut ausdrückt: der des »Kaleidoskops« (1958: 82). Bereits dieses erste Buch, so könnte man sagen, ist der Kristallisationskern, um den das Kaleidoskop von Bourdieus Theorie heranwuchs. Der Kern umfasst eine Kombination aus soziologischer Begrifflichkeit, Erkenntnistheorie, Instrumenten, quantitativer Empirie und Ethnologie. In Algerien begann Bourdieu СКАЧАТЬ