Deutsche Sprachgeschichte. Stefan Hartmann
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Название: Deutsche Sprachgeschichte

Автор: Stefan Hartmann

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783846348239

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СКАЧАТЬ korrigieren. Folgerichtig gilt es bei Studien, die auf Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteilen fußen, zwar immer eine Reihe von möglichen Störfaktoren zu bedenken, doch können sie sich für viele Fragestellungen als äußerst aufschlussreich erweisen.

      Wie aber – um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen – können Fragebogenstudien und Experimente zur sprachgeschichtlichen Forschung beitragen? Hier müssen wir uns vor Augen führen, dass Sprachwandel (zumindest in aller Regel) kein sprunghafter, sondern ein kontinuierlicher Prozess ist. Daher hängen Sprachwandel und sprachliche Variation untrennbar zusammen. Einerseits bildet sprachliche Variation die Keimzelle des Sprachwandels, andererseits führt Sprachwandel seinerseits zu Variation. Wenn eine Sprecherin eine neue Form benutzt (Innovation), die sich dann allmählich in der Sprachgemeinschaft ausbreitet (Diffusion), so entsteht dadurch Variation, wobei zunächst alte und neue Form miteinander konkurrieren. Ein einfaches Beispiel: Noch bis ins 19. Jh. war die Form in Ansehung deutlich verbreiteter als ihr heutiges Äquivalent in Anbetracht. Eine einfache Suche im Google ngram Viewer1 – der zwar als Korpus problematisch ist, aber durch die Nutzung der umfangreichen GoogleBooks-Daten eine ungeheuer große Datenbasis hat – zeigt, wie die neue Form um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die alte überholt (s. Fig. 10). Die Phase, in der eine neue Form sich durchsetzt und dabei ggf. eine alte verdrängt, nennt man Approbationsphase (vgl. Bechmann 2016: 74). Weil der Prozess graduell ist, existieren eine Zeitlang mehrere Formen nebeneinander. Bechmann (2016: 158) bringt es auf den Punkt: „Gegenwärtiges ist immer Gewordenes aus Gewesenem.“

      Dabei kann es zu Zweifelsfällen kommen, bei denen Sprecherinnen und Sprecher unsicher sind, welche von (mindestens) zwei möglichen Formen die standardsprachlich „richtige“ ist (vgl. Klein 2003, 2009). So schwanken Sprecher heute beispielsweise zwischen Pluralformen mit und ohne Umlaut: die Wagen vs. die Wägen. Möglicherweise fiel Sprecherinnen vor etwas über 100 Jahren auch die Wahl zwischen in Ansehung und in Anbetracht nicht leicht. Nübling (2012: 66) vergleicht solche Zweifelsfälle mit „Beben“, die auf tiefgreifende Veränderungen zurückgehen. Fragebogenstudien können somit gleichsam als „Seismograph“ für solche Veränderungen gesehen werden und können helfen, Fragen zu beantworten wie:

       Welche alternativen Formen gibt es?

       Wird eine der Formen häufiger gebraucht?

       Wird eine der Formen in bestimmten Kontexten häufiger gebraucht? (z.B. Registervariation: eine Form findet sich eher in formellen Kontexten, eine andere eher in mündlich bzw. umgangssprachlich geprägten)

       Wird eine der Formen in bestimmten Regionen oder Dialektgebieten häufiger gebraucht?

      Fig. 10: Frequenz von in Ansehung vs. in Anbetracht im Google Ngram Viewer. (Anteil der jeweiligen Form an allen Tokens im GoogleBooks-Korpus.)

      Dieser letztgenannten diatopischen Variation widmen sich beispielsweise Sprachatlanten. Pionierarbeit auf diesem Gebiet hat Georg Wenker (1852–1911) mit seinem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ geleistet, der über das Marburger Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas unter www.regionalsprache.de vollständig online abrufbar ist. Mit Hilfe einer Reihe von Sätzen, die er von Volksschullehrern aus dem gesamten damaligen Deutschen Reich ausfüllen ließ, konnte Wenker vor allem die Verteilung lautlicher Varianten kartieren. Aber auch lexikalische Variation zeigt sich in seinen Karten, etwa zwischen Dienstag, Aftermontag (im Ostschwäbischen) und Ertag (im Bairischen) oder zwischen Buddel im Niederdeutschen und Mecklenburgisch-Vorpommerschen einerseits und Flasch(e) in anderen Gebieten.

      Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werfen wir zunächst einen näheren Blick auf die Methodik von Fragebogenstudien, ehe wir einen Schritt weitergehen und das Potential behavioraler Experimente, die über reine Befragungen hinausgehen, für linguistische Fragestellungen und insbesondere für die Zweifelsfallforschung erkunden.

      Fragebogenstudien

      Während der Beginn der modernen Umfragenforschung, der naturgemäß insbesondere in Disziplinen wie der Soziologie ein zentraler Stellenwert zukommt, laut Hippler & Schwarz (1996: 726) in die 30er-Jahre des 20. Jh. zu datieren ist, haben wir am Beispiel von Georg Wenkers Deutschem Sprachatlas bereits gesehen, dass die systematische Sammlung von Daten durch Befragung von Informanten bereits im 19. Jh. zum Methodenrepertoire der Sprachwissenschaft gehörte. Seither haben sich die Möglichkeiten der Befragung schon allein durch den technischen Fortschritt tiefgreifend verändert. Dadurch sind natürlich auch die methodischen Anforderungen, die heute an Fragebogenstudien gestellt werden, deutlich rigoroser als noch zu Beginn der Umfragenforschung oder gar zu Wenkers Zeiten. Daher wäre es verfehlt anzunehmen, dass man einen Fragebogen „samstagnachmittags beim Kaffeetrinken“ erstellen könne, wie Porst (2014: 13) die ironische Bemerkung eines Kollegen zitiert.

      Porst (1996: 738) definiert einen Fragebogen als

      eine mehr oder weniger standardisierte Zusammenstellung von Fragen, welche Personen zur Beantwortung vorgelegt werden mit dem Ziel, deren Antworten zur Überprüfung der den Fragen zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und Zusammenhänge zu verwenden.

      Es lohnt sich, auf die einzelnen Elemente dieser Definition genauer einzugehen. Fangen wir hinten an, mit dem Ziel des Fragebogens, nämlich der „Überprüfung der den Fragen zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und Zusammenhänge“. Wie wir bereits in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, ist Empirie nie Selbstzweck. Empirische Daten helfen uns, Phänomene zu verstehen, die sich der unmittelbaren Beobachtung entziehen. Die Phänomene, mit denen wir uns in diesem Buch auseinandersetzen, lassen sich unter dem Überbegriff komplexe Systeme zusammenfassen – Sprache, Kognition, Kultur. Sprache ist in Form von Artefakten, also bspw. sprachlichen Lauten, Gebärden und Schriftzeichen, beobachtbar, doch wie Sprache tatsächlich funktioniert, wie und warum sie sich wandelt und ob es Regeln und Prinzipien gibt, denen sprachliche Variation folgt, können wir daraus nicht direkt ersehen. Auch scheinbar Triviales wie die Existenz von Dialekten oder Dialektgrenzen sind keine „harten Fakten“, sondern Kategorisierungsleisungen unsererseits.

      Ein Beispiel: Wenn ich als Pfälzer nach Hamburg komme und mir dort auffällt, dass die Leute in der U-Bahn seltsame Wörter benutzen (moin, nech), andere Wörter merkwürdig aussprechen (wat, dat, Hamburch), dann ist das zunächst eine Einzelbeobachtung. Je öfter ich jedoch den gleichen Phänomenen begegne, desto sicherer kann ich mir sein, dass die Abweichungen von meiner eigenen Sprachvarietät systematischer Natur sind und dass es sich um für diesen Sprachraum charakteristische Phänomene handelt. Zunächst aber ist die Idee, dass es eine für diese Region spezifische Sprachvarietät gibt, eine reine Hypothese. Empirische Daten, die beispielsweise durch Fragebogenstudien à la Wenker erhoben werden können, können nun dazu beitragen, meine Kategorisierung zum einen zu überprüfen zum anderen zu verfeinern. Selbst die scheinbar rein deskriptive, also beschreibende, Erhebung von Dialektdaten dient also letztlich der Überprüfung theoretischer Konzepte und Zusammenhänge. Erst recht gilt das für Studien, die einen explanativen, also erklärenden, Anspruch erheben – also beispielsweise der Frage nachgehen, warum eine bestimmte Form gegenüber einer anderen, prinzipiell möglichen Form bevorzugt wird. So wäre eine FragebogenstudieFragebogenstudie vorstellbar, die Grammatikalitätsurteile zu Wörtern mit und ohne Fugen-s erfragt (Erbschaftsteuer vs. Erbschaftssteuer; Seminararbeit vs. Seminarsarbeit; Hauptseminararbeit vs. Hauptseminarsarbeit). Aufgrund der Antworten könnte dann erörtert werden, welche Faktoren dazu führen, dass eher die verfugte als die unverfugte Variante gewählt wird oder umgekehrt (z.B. Anzahl der Kompositionsglieder, СКАЧАТЬ