7 Milliarden für nichts. Günther Loewit
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Название: 7 Milliarden für nichts

Автор: Günther Loewit

Издательство: Bookwire

Жанр: Медицина

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isbn: 9783990013960

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      Denn die Grundlage meines Berufes sind Patienten. Aus dem Lateinischen übersetzt »Leidende«.

      Die eigentliche Grundlage eines sogenannten Gesundheitssystems wäre also die Arzt-Patient-Beziehung.

      Ein Leidender, ein Arzt.

      Ein Mensch, der Hilfe sucht, und ein Mensch, der Hilfe anbietet. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass der, der die Hilfe anbieten kann, Macht und Ansehen in Händen hält. Es geht also auf jeden Fall auch um Macht.

      Der Arzt und sein Patient.

      Das wäre die Kernzelle.

      Das Samenkorn eines Gesundheitssystems.

      Alles andere hat sich im Laufe der Zeit rund um diese besondere Beziehung entwickelt. Pflegedienste, Rettungswesen, Hospitale, Seelsorge und Spitäler, Universitäten, Pharma- und Medizinindustrie, Apotheken, Fachgesellschaften und Qualitätssicherungsinstitute, Patientenanwälte, Heiler und Schamanen, Homöopathen und Energetiker, Krankenkassen, Ärztekammern, Gesundheitsökonomen, Lenkungsausschüsse, Hauptverbände, Krankenanstalten-Holdings und -Verbände, Gesundheitsämter und Ministerien, die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. All diese Institutionen sind wie die Schalen einer Zwiebel rund um die Arzt-Patient-Beziehung entstanden. Sie haben Eigendynamik, Selbsterhaltungstrieb, Fortpflanzungstendenzen, Vernetzungen und Querverbindungen entwickelt. Sie kleben hartnäckig aneinander und sind ineinander verkeilt. Ein gordischer Knoten von Heilsversprechungen.

      Vordergründig, um zu helfen.

      Das kommt gut an.

      In Wirklichkeit geht es jährlich um ein circa dreißig Milliarden Euro schweres Geschäft. Um circa elf Prozent des BIP. 2010 sind zum Beispiel 31,4 Milliarden Euro für den Bereich Gesundheitsdienstleistungen ausgegeben worden.

      Es geht um Umsatz, Profit, Macht und Ansehen.

      Aber Gesundheit ist nicht käuflich. Niemand kann Gesundheit produzieren, verkaufen oder sonst vermarkten. Ja, manchmal gelingt es uns Ärzten, Gesundheit oder einen Teil davon wiederherzustellen. Die chirurgischen Methoden unserer Tage suchen in der Geschichte der Medizin ihresgleichen. Aber die utopische Begriffserklärung von Gesundheit, wie sie von der WHO propagiert wird, ist so gut wie nie erreichbar. »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.«2

      Das Gesundheitssystem ist ein dreißig Milliarden Euro schweres Geschäft mit der Illusion. Ein Perpetuum mobile erster Art. Es ist in der Lage, Gesundheit wiederherzustellen und zugleich neue Kranke zu produzieren.

      Formuliert man den berühmten ersten Hauptsatz der Thermodynamik für die Medizin um, könnte er so lauten: »Es gibt keine gesunden, sondern nur schlecht untersuchte Menschen.«

      Bei jeder Vorsorgeuntersuchung werden neue Abweichungen von der Norm festgestellt, sofort behandelt und später kontrolliert. So erhält sich das System selbst am Leben. Das ist die Wirklichkeit. Die beabsichtigte Nebenwirkung, das ist nicht zu leugnen, ist Hilfe für Patienten.

      Aber das wäre auch billiger zu haben.

      Zur Illustration das medizinische Kapitel »Lebensende«: Die Sterblichkeit der Menschen beträgt auch 2019 trotz der modernen Medizin immer noch hundert Prozent. Eine mathematische Gewissheit, die vom modernen Gesundheitssystem gerne ignoriert wird. Aus Sicht der Gesundheitsindustrie müsste niemand sterben, wenn nur die medizinische Versorgung ausreichend wäre. Das wird Bevölkerung, Ärzten und Politikern so lange suggeriert, bis es alle selbst glauben. Besuchen Sie einmal einen Kardiologen-, Chirurgen- oder Radiologenkongress. Alles wäre möglich. Wenn nur die öffentliche Hand genug Ressourcen zur Verfügung stellen würde.

      Verschiedene Studien belegen, dass die letzten drei bis sechs Lebensmonate genauso hohe Ausgaben im Bereich der Gesundheitskosten verursachen wie das gesamte Leben zuvor. Um das 2018 stattfindende Sterben eines 1928 geborenen Menschen zu verhindern, wird vom Gesundheitssystem zehnmal so viel Geld in die Hand genommen wie für einen 1928 geborenen Patienten, der ein normales weiteres Lebensjahr hinter sich bringt und 2018 überlebt. Aber mit Geld lässt sich der Tod nicht verhindern.

      Die Medizin behauptet, alles zu unternehmen, um den Tod zu bekämpfen und das Leben zu verlängern. Der Tod entpuppt sich als die Nemesis der Medizin.

      Es hätte mehr Würde für den Patienten und wäre billiger für das System, den natürlichen Tod am Ende des Lebens anzunehmen. Es ist keine Schande, am Ende des Lebens zu sterben. Wie es auch keine Schande ist, am Anfang des Lebens geboren zu werden.

      Es ist schlichtweg absurd, wenn hochbetagte sterbende Karzinompatienten während ihrer letzten Lebensstunden noch Chemotherapien um etliche tausend Euro intravenös verabreicht bekommen. Da wären wohl ein ehrliches ärztliches Wort mit den Angehörigen und eine sedierende Medikation für den Patienten weit sinnvoller und zweckdienlicher.

      Doch mit offenen Worten ist kein Geschäft zu machen.

      Und die Illusion, dass die Medizin in wirklich jeder Situation helfen kann, würde berechtigte Kratzer bekommen.

      Wenn Politiker bei so gut wie jedem ihrer Auftritte monoton den Satz: »Für die Gesundheit darf uns nichts zu teuer sein!« wiederholen, zeigt das nur, wie sehr sie die Bedeutung des Gesundheitssystems als Machtfaktor erkannt haben. Auch für ihre eigene Stellung. Denn in einer diesseits- und körperorientierten Wohlstandsgesellschaft hat am meisten Macht und Ansehen, wer die körperliche Gesundheit garantieren kann. Wer als Volksvertreter wiedergewählt werden will, verspricht Gesundheit, Wohlstand, ein gut funktionierendes Sozialsystem, ein neues Krankenhaus und noch einmal Gesundheit.

      Ein Blick auf die unkontrollierte Expansion des Gesundheitssystems insgesamt muss bei jedem Steuerzahler jedoch die Alarmglocken schrillen lassen.

      1960, zwei Jahre nach meiner Geburt, hat es in Österreich circa 11.000 Mediziner gegeben, davon 6.135 Hausärzte. In den Geschichtsbüchern ist aber nichts davon zu lesen, dass zu jener Zeit die medizinische Versorgung im Land schlecht gewesen wäre. Immer wieder fällt im Zusammenhang mit dem propagierten medizinischen Fortschritt der Satz: »Dank der modernen Medizin können heute Patienten überleben, die früher nicht überlebt hätten.« Dieser Sicht zu widersprechen wäre dumm. Die Fortschritte bei der Entwicklung von Impfstoffen sowie in der Transplantations- und Unfallchirurgie sprechen für sich.

      Aus meiner Sicht muss diesem Satz ein zweiter Satz gegenübergestellt werden: »Wegen der modernen Medizin sterben heute Patienten, die früher nicht gestorben wären.« Denken wir dabei nur an die circa 30.000 bis 35.000 Toten in Europa, die zum Beispiel nach einer überstandenen Operation an einer Infektion mit Spitalskeimen sterben. Diese Keime hat die moderne Medizin selbst produziert.

      Auf den Punkt gebracht könnte man formulieren: Während früher ein nierenkranker Patient aufgrund einer Nierenspende von einem Unfallopfer überleben konnte, überlebt heute das Unfallopfer selbst.

      2019 gibt es mehr als 44.000 ausgebildete Mediziner. Das entspricht einer Vervierfachung der Ärztezahl. 14.000 von ihnen sind inzwischen als Allgemeinmediziner tätig. Dabei ist in dieser Zeitspanne die Gesamtbevölkerung des Landes lediglich von 7 auf 8,5 Millionen Menschen angestiegen. Während sich 1960 159 Ärzte um die Gesundheit von 100.000 Einwohnern bemüht haben, sind es 2019 deutlich mehr als 500 Ärzte. Bei den Allgemeinmedizinern erleben wir in diesem Zeitraum eine Verdoppelung der Versorgungsdichte.

      Und trotzdem sind Patienten und Ärzte unzufrieden. Gesundheit und Wohlbefinden erscheinen unerreichbarer als je zuvor. Ambulanzen СКАЧАТЬ