Название: Dialektik der Ordnung
Автор: Zygmunt Bauman
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783863935733
isbn:
Genauigkeit, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Kenntnis der Akten, Kontinuität, Diskretion, Einmütigkeit, strenger Gehorsam, reduzierte Reibungsverluste sowie Material- und Personalkosten – all das erreicht in einer streng bürokratischen Verwaltung einen Kulminationspunkt … Die Bürokratisierung bietet zuallererst die Möglichkeit der Spezialisierung von Verwaltungsfunktionen auf der Basis völlig objektiver Kriterien. … ›Objektive‹ Amtsausübung richtet sich nach berechenbaren Regeln und wird ›ohne Ansehen der Person‹ vollzogen.19
Die Übertragung dieser Definition von Bürokratie auf den Holocaust mag vielen als furchterregende Travestie oder als Zynismus besonderer Grausamkeit erscheinen.
Und doch: Der Holocaust liefert eine wichtige Hilfe zum Verständnis der modernen bürokratischen Rationalisierung, und zwar nicht nur, weil daran erkennbar wird, was ohnehin jedermann weiß, daß nämlich bürokratisches Streben nach Effizienz mit formaler und ethischer Blindheit erkauft wird. Die Bedeutung des Holocaust erschöpft sich ebensowenig darin, daß wir erkennen, in welchem Maße dieser beispiellose Massenmord hochentwikkelte Qualifikation und präzise Arbeitsteilung voraussetzte, den reibungslosen Fluß von Anweisung und Information ebenso wie die unpersönliche und perfekt synchronisierte Einzelaktion – mit einem Wort all jene Qualifikationen und Fähigkeiten, die in einer Büro- und Verwaltungsatmosphäre kultiviert werden. Nein, der Holocaust rückt unser Wissen von der bürokratischen Rationalität in ein viel grelleres Licht, sobald wir uns bewußt werden, daß das Konzept der Endlösung* geradezu als Ergebnis der bürokratischen Kultur zu betrachten ist.
Karl Schleuner20 verdanken wir die Einsicht, daß die physische Vernichtung der europäischen Juden einen sehr komplexen Verlauf nahm. Die Endlösung entsprang weder der Vision eines wahnsinnigen Monsters, noch vollzog sie sich nach wohlüberlegten Entscheidungen im Sinne einer »Problemlösung« ideologisch motivierter Führer. Der Gedanke der Endlösung entwickelte sich allmählich und nahm in jedem Stadium Richtungswechsel vor, dabei auf Krisen reagierend und vorangetrieben von der »Entschlossenheit, jedes sich bietende Hindernis zu überwinden«. Schleuners Konzept faßt anschaulich die Erkenntnisse der »Funktionalisten« unter den Historikern des Holocaust zusammen, die sich in den letzten Jahren zunehmend gegen die »Intentionalisten« durchsetzten, deren Kausalerklärung des Holocaust, das heißt die Vorstellung einer dem Genozid an den Juden eigenen Motivationslogik oder Konsistenz, kaum noch haltbar ist.
Die Funktionalisten sehen die Dinge so: Hitler benannte das Ziel des Nazismus: »Entfernung der Juden, das heißt ein judenfreies* deutsches Reich* – legte jedoch nicht fest, wie dieses Ziel zu verwirklichen sei.21 In dem Augenblick, als Klarheit über das Ziel herrschte, folgte alles dem von Max Weber hellsichtig beschriebenen Schema: »Der ›politische Führer‹ sieht sich in der Rolle des ›Dilettanten‹, konfrontiert mit dem ›Fachmann‹, einem ausgebildeten Technokraten aus den Reihen der Verwaltungshierarchie.«22 Der Befehl lautete, das Ziel zu verwirklichen, das »Wie« richtete sich nach den Umständen, nach der »fachmännischen« Beurteilung von Durchführbarkeit, nach Kostengesichtspunkten sowie alternativen Lösungsmodellen. So entschied man sich zunächst für die Emigration als praktische Umsetzung der Wünsche des Führers; hätten sich andere Länder aufnahmebereiter gegenüber den jüdischen Flüchtlingen gezeigt, wäre das judenfreie* Deutschland vielleicht auf diese Weise zu verwirklichen gewesen. Nach dem »Anschluß« Österreichs verdiente sich Eichmann erste Lorbeeren mit der Forcierung der jüdischen Massenemigration. Aber das von den Nazis beherrschte Territorium wuchs. Zunächst schwebte der Nazi-Bürokratie die Eroberung und Verwendung semikolonialer Territorien als Wunschlösung im Sinne des Führers vor: Generalgouvernements* schienen die geeigneten Auffangräume für die Juden aus dem rassisch zu säubernden Reichsgebiet. Als künftiges »Judenreservat« war Nisko in Mittelpolen (Westgalizien) im Gespräch. Die deutsche Bürokratie in den eroberten polnischen Gebieten stellte sich jedoch quer. Man hatte zu viele Probleme mit den »eigenen« Juden. Eichmann beschäftigte sich nun ein ganzes Jahr mit dem Madagaskar-Projekt: Warum nicht jetzt, da Frankreich besiegt war, die ferne Kolonie in einen Judenstaat verwandeln, der in Europa nicht realisierbar war? Dieses Projekt wurde jedoch für undurchführbar erklärt, zu groß waren die Entfernung und die damit verbundenen logistischen Probleme, zumal angesichts britischer Präsenz auf den Weltmeeren. Unterdessen vergrößerte sich das okkupierte Gebiet und damit die Zahl der unter Naziherrschaft geratenden Juden weiter. Ein von den Nazis beherrschtes Gesamteuropa (nicht nur ein neuerliches »Großdeutschland«) zeichnete sich ab, das »Tausendjährige Reich«* nahm allmählich aber unaufhaltsam die Gestalt des deutsch beherschten Europa an. Die Forderung eines judenfreien Deutschlands geriet in diesen Sog und wandelte sich fast unmerklich zur Vision eines judenfreien* Europa. Für ein derartig monumentales Projekt reichte eine »Überseelösung« nicht aus. (Eberhard Jäckel verweist jedoch darauf, daß es noch im Juli 1941, als Hitler mit der Bezwingung der Sowjetunion binnen weniger Wochen rechnete, Pläne gab, alle europäischen Juden in die russischen Weiten jenseits der Linie Archangelsk-Astrachan zu deportieren.) Als sich der Zusammenbruch Rußlands hinauszögerte und alternative Lösungen mit der wachsenden Dringlichkeit des Problems nicht Schritt hielten, ordnete Himmler am 1. Oktober 1941 die Beendigung sämtlicher Emigrationsmaßnahmen an. Die »Entfernung der Juden« wurde auf andere Weise angestrebt: Die Massenvernichtung wurde als einzig praktikables und effizientes Mittel für die ursprüngliche, inzwischen aber erweiterte Zielsetzung erkoren. Alles andere war nur noch eine Frage der Kooperation der beteiligten bürokratischen Abteilungen; eine Frage der minutiösen Planung, der Entwicklung geeigneter Technologien und Geräte, der finanziellen Etats und Bereitstellung notwendiger Ressourcen – das heißt also, eine bürokratische Routineangelegenheit.
Das ist die erschütterndste Lehre aus der Analyse des »komplexen Phänomens Auschwitz«, die Tatsache, daß die Wahl physischer Vernichtung als des richtigen Mittels zur Entfernung* der Juden das Ergebnis eines bürokratischen Entscheidungsprozesses war, bei dem Kosten-Nutzen-Überlegungen, Finanzfragen und einheitliche Regelauslegung eine Rolle spielten. Um es noch deutlicher zu formulieren: Die Entscheidung wurde im ernsthaften Bemühen um möglichst rationelle Lösungen für sich verändernde Problemstellungen getroffen. Auch die vielzitierte Tendenz der Bürokratie zur Erweiterung von Zielsetzungen – so normal wie bürokratische Routine – hatte daran wesentlichen Anteil. Allein die Tatsache, daß es Funktionäre mit speziellen Aufgaben gab, hatte zur Folge, daß immer neue Initiativen ergriffen und die ursprünglichen Ziele ständig höher gesteckt wurden. Das Expertenwissen – das eigentlich nur instrumentellen Charakter hatte – bewies wieder einmal seine Eigendynamik und eine ausgeprägte Neigung, die ursprünglich gesetzten Ziele zu übertreffen und umzudefinieren.
Allein die Tatsache, daß es eine Gruppe von Fachleuten für Judenfragen gab, verlieh der nazistischen Judenpolitik eine bürokratische Eigendynamik. Noch 1942, als Deportationen und Massenmord bereits begonnen hatten, wurde es den Juden gesetzlich untersagt, Haustiere zu halten, arische Friseure aufzusuchen oder das Reichssportabzeichen zu erwerben. Es bedurfte keiner besonderen Weisungen von oben – das Aufgabengebiet eines »Fachmannes« für Judenfragen bot die Gewähr, daß die Kontinuität der diskriminierenden Gesetzgebung nicht abriß.23
Zu keinem Zeitpunkt ihrer langen, qualvollen Vollstreckung geriet СКАЧАТЬ