Название: Dialektik der Ordnung
Автор: Zygmunt Bauman
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783863935733
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Das soll nicht heißen, der Holocaust sei durch die moderne Bürokratie oder die in ihr verkörperte Kultur des instrumentellen Rationalismus determiniert gewesen; die moderne Bürokatie bringt nicht notwendig holocaustartige Phänomene hervor. Dennoch, so lautet meine These, sind die Grundsätze eines instrumentellen Rationalismus eindeutig ungeeignet, derartige Phänomene zu verhindern; auf der Ebene dieser Grundsätze lassen sich die Methoden des Holocaust nicht von »sauberem Social Engineering« trennen, weil nämlich deren irrationaler Charakter unerkannt bleibt. Ich gehe noch weiter: Gerade die bürokratische Kultur, die Gesellschaft ja als administratives Objekt und Konglomerat von »Problemen« begreift, die einer Lösung harren, schuf die Atmosphäre, in welcher der Gedanke des Holocaust langsam, aber kontinuierlich reifen und zur Vollstreckung gebracht werden konnte. Die Problemstellungen, deren Lösung das »Social Engineering« in Angriff nimmt, entsprechen einer »Natur«, die »beherrscht«, »gebändigt«, und »gebessert« oder »umgestaltet« werden muß wie ein Garten, dessen Planung notfalls gewaltsam durchzusetzen und zu sichern ist (in der Terminologie des Gärtners besteht eine strenge Trennung zwischen »Kulturpflanzen« und »Unkraut», das ausgemerzt werden muß). Ich behaupte schließlich, daß der Geist des instrumentellen Rationalismus und seine moderne bürokratisch-institutionalisierte Ausprägung die Lösungmöglichkeiten in der Art des Holocaust nicht nur ermöglichte, sondern »rational« begründbar machte – und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhte, daß man sich für sie entschied. Unterstützt wurde diese Tendenz nicht zuletzt durch die Fähigkeit moderner bürokratischer Systeme, das Handeln vieler, an sich ethisch eingestellter Individuen derart zu koordinieren, daß am Ende jedes noch so unethische Ziel zu verwirklichen ist.
Die soziale Erzeugung moralischer Indifferenz
Dr. Servatius, der Verteidiger Eichmanns in Jerusalem, faßte seine Verteidigungslinie so zusammen: Eichmann beging Taten, für die man als Sieger dekoriert, als Unterlegener aber an den Galgen kommt. Die Botschaft dieser Aussage – zynischere hat es in diesem an provozierenden Einsichten nicht gerade armen Jahrhundert kaum gegeben – ist banal: Wer die Macht hat, hat das Recht.
Die zweite Botschaft, versteckter, jedoch nicht weniger zynisch und viel alarmierender ist diese: Eichmann habe im Prinzip nichts getan, was nicht auch auf seiten der Sieger geschehen sei. Handeln an sich hat keine ethische Dimension und kann daher auch nicht unmoralisch sein. Die moralische Beurteilung wird der Handlung von außen aufgepfropft und ist grundsätzlich anderen Kriterien unterworfen, als jene es sind, die das Handeln selbst bestimmen.
Das Beunruhigende an der Botschaft des Dr. Servatius ist, daß sie – losgelöst von den Umständen, unter denen sie formuliert wurde, und reduziert auf ihren überindividuellen, universalen Kern – von den traditionellen Thesen der Soziologie nicht zu unterscheiden ist, mehr noch: nicht zu unterscheiden von dem, was das Selbstverständnis unserer – kaum je hinterfragten, geschweige denn umstrittenen – modernen rationalistischen Gesellschaft ist. Das ist der eigentliche Grund dafür, daß die Aussage von Dr. Servatius so schockierend ist. Sie enthält eine »Wahrheit«, vor der wir lieber die Augen schließen: Legt man diese Überzeugung der Wahrheitsfindung zugrunde, dann kann auch der Fall Eichmann, soziologisch gesehen, von dieser Wahrheit nicht ausgenommen werden.
Der Holocaust kann mittlerweile nicht mehr, wie anfänglich, als Greueltat von geborenen Verbrechern, Sadisten, Psychopathen, Soziopathen oder moralisch defekten Individuen interpretiert werden. Die Fakten widerlegen diese Theorie, obwohl die historische Forschung zu diesem Komplex keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Repräsentativ für den gegenwärtigen Stand der Forschung sind Kren und Rappoport:
Legt man herkömmliche klinische Kriterien zugrunde, könnte man höchstens 10 Prozent der SS-Leute als ›anomal‹ bezeichnen. Diese Beobachtung läßt sich mit Aussagen von KZ-Überlebenden belegen, denen zufolge in den meisten Lagern nur einige wenige SS-Aufseher wegen besonders sadistischer Grausamkeiten berüchtigt waren. Galten die übrigen auch nicht unbedingt als anständig, so doch zumindest als berechenbar …
Wir sind der Überzeugung, daß die überwiegende Mehrheit der SS-Männer, Führer sowohl als Mannschaften, ohne Probleme die Anforderungen der psychologischen Standardtests für amerikanische Rekruten oder Polizisten erfüllt hätten.24
Daß die Mehrzahl der Vollstrecker des Genozids normale Menschen waren, die man selbst mit strengen herkömmlichen psychologischen Tests nicht hätte aussieben können, verletzt unser moralisches Empfinden. Aus wissenschaftlicher Sicht muß ferner zu denken geben, daß gleichzeitig auch die organisatorisch-administrativen Strukturen, die individuelles Handeln zu dem Gesamtprojekt Genozid zusammenfaßten, ganz »normal« waren. Wir haben bereits gesehen, daß die für den Holocaust verantwortlichen Institutionen zwar kriminelle, jedoch im eigentlichen soziologischen Sinn keine pathologischen oder anomalen Merkmale aufwiesen. Und nun erkennen wir, daß auch die handelnden Personen im wesentlichen nicht von der Norm abwichen. Dieses theoretische Dilemma zwingt uns, die vermeintlich unproblematischen, normalen Muster modernen, rationalen Handelns genauer zu durchleuchten, denn sie tragen in sich ein Potential, das im Holocaust so dramatisch ans Licht getreten ist.
Nach dem berühmt gewordenen Wort von Hannah Arendt bestand das größte (allerdings mit erstaunlichem Erfolg gemeisterte) Problem der Urheber der Endlösung* darin, »das animalische Mitleid auszuschalten, das jeder normale Mensch angesichts physischer Leiden empfindet«25. Die Personen, die den an der Massenvernichtung direkt involvierten Organisationen angehörten, waren weder anomal sadistisch veranlagt, noch ausgesprochene Fanatiker. Man darf annehmen, daß sie die instinktive menschliche Aversion gegen das Zufügen von Leid besaßen und höchstwahrscheinlich auch die universale Tötungshemmung. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß übereifrige, emotionalisierte und ideologisch fanatisierte Personen aus den Reihen der Einsatzgruppen* und ähnlicher Einheiten, die direkt an Tötungsaktionen teilnahmen, ausgemustert wurden. Man wollte die individuelle Initiative bremsen und bemühte sich um eine betont sachliche, unpersönliche »Erledigung« der Aufgabe. Persönliche Bereicherung und persönliche Motive waren unter Strafandrohung verboten. Wurden »niedere Beweggründe« – und nicht die befohlene organisierte Aktion – als Motiv nachgewiesen, führte dies (zumindest auf dem Papier) zu einer Bestrafung wegen Mordes oder Totschlags. Himmler hat bei zahlreichen Anlässen eine aller Wahrscheinlichkeit nach echte Besorgnis geäußert, wie die geistige Gesundheit und Moral seiner tagtäglich mit dem inhumanen Geschäft befaßten Untergebenen aufrechtzuerhalten sei; bei anderer Gelegenheit zeigte er sich sichtlich stolz, daß Gesundheit und Moral seiner Männer unter dieser Belastungsprobe nicht gelitten hätten. Die SS distanzierte sich gerade wegen ihrer Sachlichkeit* von ›emotionalen‹ Typen wie Streicher, dem »unrealistischen Narren«, und auch von gewissen »Parteibonzen, die sich teutonisch-germanisch gebärdeten, als wären sie mit Hörnern und Fell bekleidet«.26 Die SS-Führung wußte, warum sie sich lieber auf organisatorische Routine verließ als auf individuellen Eifer; Disziplin war wichtiger als ideologisches Engagement. Die pflichtgetreue Durchführung des blutigen Geschäfts ließ sich in der Tat nur mit bedingungsloser Funktionalität im Rahmen der Organisation absichern.
Man konnte »animalisches Mitleid« nicht ausschalten, indem man andere primitive Instikte СКАЧАТЬ