Traumzeit für Millionäre. Roman Sandgruber
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Название: Traumzeit für Millionäre

Автор: Roman Sandgruber

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783990401842

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СКАЧАТЬ der Welt und viertgrößten Europas geworden: ein Schmelztiegel der Nationen, eine Hochburg der Künste und Wissenschaften, eine Stadt der Träume, aber auch der harten sozialen und nationalen Gegensätze, zugedeckt von schmelzenden Operettenmelodien und verzopftem Hofzeremoniell. Für die einen war es die „gute alte Zeit“, das „Zeitalter der Sicherheit“ und ein „letzter Glanz der Märchenstadt“, für die anderen ein „Tanz auf dem Vulkan“, ein „Völkerkerker“ und ein Warten auf die „letzten Tage der Menschheit“. Noch regierte der alte Franz Joseph, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, König von Böhmen, Markgraf von Mähren, Erzherzog von Österreich, Herzog von Steiermark, Kärnten und Krain, gefürsteter Graf von Tirol, König von Galizien und Lodomerien. Immer noch auch mit dem Titel eines Königs von Jerusalem und – merkwürdig genug im Lichte der späteren Geschichte – eines Herzogs von Auschwitz. Es war Klimts Wien, Mahlers Wien, Schnitzlers Wien, Wittgensteins Wien, Freuds Wien, Herzls Wien, Rothschilds Wien, Luegers Wien. Hitlers Wiener Jahre begannen 1908, Trotzki lebte hier von 1906 bis 1914 und Stalin recherchierte im Jahr 1913 in Wien. Josip Broz, später Tito genannt, wohnte im selben Jahr in Neudörfl und arbeitete in den Daimler-Werken in Wiener Neustadt.

      Es war eine spannende Zeit, in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Technik, in der Politik. Wien glänzte als Mekka der Medizin. Die Grundlagen von Physik und Chemie wurden neu definiert. In Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Rechtswissenschaften, überall wurden Höchstleistungen vollbracht. Die Kunst war in raschem Umbruch. Noch dominierten die historisierenden Stile. Aus heutiger Sicht aber ist es die Zeit des Jugendstils. Hans Makart hatte eine ganze Epoche geprägt. John Quincy Adams malte die feudalen Eliten, Gustav Klimt die modischen Aufsteiger, besser gesagt deren Frauen und Töchter. Josef Hofmann richtete ihre Villen ein. Adolf Loos provozierte den Kaiser mit seinem direkt vor die Hofburg platzierten Haus ohne Schnörkel und Verzierungen. Arthur Schnitzler, der einflussreichste und umstrittenste Dichter der Epoche, provozierte Theaterskandale, Arnold Schönberg provozierte mit neuer, nie gehörter Musik, Sigmund Freud provozierte mit der Analyse der Seele. Die Wiener Könige der Silbernen Operette feierten internationale Erfolge. Gustav Mahler war, von der Leitung der Staatsoper resigniert, nach Amerika gegangen und todkrank zurückgekehrt. Man unterhielt sich glänzend, in der Hofoper und im Burgtheater, auf den Flaniermeilen am Ring und auf den Rennplätzen im Prater, in den Separées im Sacher und bei der Heurigenmusik in Grinzing. „Die Frauen sind schön und elegant. Und überhaupt alles ist verteufelt elegant“, schrieb Anton Tschechow anlässlich seines Aufenthalts über das Wien des Fin de Siècle.1 Die Wortwahl „verteufelt“, beim Wortsinn genommen, lässt die dunkle Ahnung von einem bevorstehenden Verderben mitschwingen.

      Der Glanz der Ringstraßengesellschaft blendet. Ihre Leistungen beeindrucken. Die damit verbundenen Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen und Fehlentscheidungen müssen nachdenklich stimmen. Es sind etwa 1.000 Millionäre, die die Spitze dieser Gesellschaft bildeten: das Kaiserhaus, hohe Adelige und Rentiers, Bankleute, Großhändler und Industrielle, einige Baumeister, ein paar Künstler, Wissenschaftler und Ärzte, kaum Politiker und Beamte, eine Reihe von Witwen und reichen Erbinnen und ein Kardinal. Wie und von wem diese „verteufelte“ Eleganz finanziert wurde, darüber hat sich die österreichische und internationale Geschichtsforschung, die zum Fin de Siècle und seinen kulturellen und sozialen Oberschichten hervorragende und zu Recht berühmte Studien präsentiert hat, wenig Gedanken gemacht. Die österreichische Wirtschaftsgeschichte hat sich 50 Jahre lang vorwiegend mit Fragen des Wirtschaftswachstums beschäftigt. Die Sozialgeschichte hat sich in Richtung der Kulturgeschichte bewegt. Die zwei informativen und ambitionierten Teilbände über die sozialen Strukturen der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918 heißen zwar „Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft“ und „Von der Stände- zur Klassengesellschaft“. Dass „Klassen“ auch etwas mit Einkommen und Vermögen zu tun haben, kommt in den fast 2.000 Seiten, die sich mit den „sozialen Strukturen“ und der sozialen Frage beschäftigen, aber nicht zum Ausdruck.2 Fragen nach Einkommen und Vermögen sind in Österreich offensichtlich nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in historischer Perspektive in hohem Maße tabuisiert. Was verdienten die Habsburger, der Hochadel, die Bankiers und Industriellen, die Freiberufler, Künstler oder auch die Frauen, die die Ringstraßengesellschaft bildeten? Was waren die Ursachen der extremen Ungleichheit der Einkommen und Vermögen? Wer gehörte zu jenem Kreis der reichsten Wienerinnen und Wiener, die die „erste“ und „zweite“ Gesellschaft der untergehenden Habsburgermonarchie bildeten und gleichzeitig deren kulturellen und alltäglichen Glanz und Nachklang formten?

      Die vorliegende Studie hat mehrere Ziele: zum ersten eine Analyse der Einkommensverteilung und der Spitzeneinkommen, die sich heute wieder den Verhältnissen vor 100 Jahren angleichen, nicht nur in den USA und in Westeuropa, sondern auch in Österreich, zweitens eine Analyse der Sozialstruktur dieser obersten Oberschicht und der sozial- und wirtschaftshistorischen Triebkräfte des Wiener Fin de Siècle und drittens eine biographisch-prosopographische Erfassung der Zugehörigen dieser Ringstraßengesellschaft. Mit insgesamt 929 Familien wird der Blick von den fünf bis zehn großen, geistesgeschichtlich herausragenden Persönlichkeiten, die meist stellvertretend für das Wien des Fin de Siècle genommen werden3, auf jenes oberste Promille erweitert, das die finanzielle und wirtschaftliche Oberschicht der Superreichen dieser Stadt ausmachte.

      Das Projekt wurde ohne öffentliche oder private finanzielle Förderungen und Drittmittel durchgeführt. Dennoch ist der Autor vielen Personen zu Dank verpflichtet. Gerhart Bruckmann gab den Anstoß, als er dem Autor die Kopie einer Namensliste der 929 höchsten Steuerzahler Wiens und Niederösterreichs im Jahr 1910 überließ.4 Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl haben mit ihren Forschungsprojekten zum Bürgertum im 19. Jahrhundert und zu Armut und Reichtum viel wissenschaftliche Vorarbeit geleistet, ebenso die Akademie der Wissenschaften mit dem Biographischen Lexikon und Helmut Rumpler mit der Herausgabe der Monumentalreihe zur Geschichte der Habsburgermonarchie 1848 – 1918. Dass sich amerikanische Historiker in besonderem Maß für das Wiener Fin de Siècle interessiert haben, hat die internationale und innerösterreichische Aufmerksamkeit für die Thematik sehr gesteigert. Georg Gaugusch hat mit seinen genealogischen Studien zu den 500 wichtigsten jüdischen Familien Wiens nicht nur eine wichtige Grundlage geliefert, sondern auch den Autor selbstlos mit Rat und Tat bei der Erstellung der Biographien unterstützt und die Kurzbiographien einer akribischen Korrektur unterzogen. Das Wiener Stadt- und Landesarchiv war bei Datenrecherchen im Melderegister sehr behilflich, ebenso das Stadtarchiv St. Pölten. Ich danke zahlreichen Forschern und Nachkommen der damaligen Familien, die mich durch Informationen und Materialbeistellung unterstützt haben: Jens Budischowsky, Michael John, Petrus Kaserer, Oliver Kühschelm, Albert Lichtblau, Dieter Lutz, Michael Pammer, Georg Ransmayr, Wolfgang Reitzi, Markus Riccabona, Elmar Samsinger, Georg Sayer, Gertraud Vonwiller, Alexander Zerkowitz und vielen anderen. Ich danke Norbert Loidol, der mit seinem großen Wissen die Erstellung des Namensregisters besorgt und manche Fehler korrigiert hat. Gerlinde Hinterhölzl hat den biographischen Teil lektoriert. Der Dank gilt nicht zuletzt dem Styria Verlag und Johannes Sachslehner, der das gesamte Buchprojekt betreut hat, und der Johannes Kepler Universität Linz, in deren wissenschaftlichem Feld die Forschungen erfolgen konnten. Vor allem aber danke ich meiner Frau Margith und meiner Familie für die langjährige Geduld, die ein derartiges neben dem Universitätsalltag laufendes Forschungsprojekt erfordert.

       Linz, im Juli 2013

       Ball der Stadt Wien: Karl Lueger und die „zweite“ Gesellschaft. Aquarell von Wilhelm Gause, 1904.

      Hermann Horwitz war einer der sonderlichsten Bankleute Wiens im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er litt, obwohl äußerst wohlhabend, an einer Verarmungsneurose. Nach Berichten sei er immer wieder, manchmal sogar mitten in der Nacht, aufgestanden, um sich über sein Vermögen zu vergewissern und Bilanz zu legen, in der Angst, am Hungertuch nagen oder seine Familie mittellos zurücklassen zu müssen. Schlussendlich führte dieser Wahn zu seinem völligen Zusammenbruch und Selbstmord. Seine Ärzte, СКАЧАТЬ