Akron
Von der Voraussetzung ausgehend, dass alles, was wir in der Welt gestalten, zuerst als Bild in uns selbst ist, äußert sich im Wunsch nach Weltgestaltung gleichzeitig auch der Wunsch nach Selbsterkenntnis. Wir müssen unsere inneren Muster in Frage stellen, wenn wir die äußere Welt verstehen wollen, aus der uns unsere eigenen inneren Fallstricke und Gefahren entgegenblicken. So können wir auch unseren eigenen Schatten sehen lernen.
Der Schatten ist nicht nur dort, wo man ihn identifiziert, personalisiert und stigmatisiert, sondern er ist gerade auch dort, wo man ihn nicht sieht, weil man scheinbar Gutes tut. Der Schatten ist daher nicht nur in den Hexenverbrennungen, den Massakern des Dritten Reiches oder den Gräueltaten militärischer Regime zu finden. Dort tritt er nur offen zutage. Viel raffinierter versteckt er sich in den Wohltaten und Wohltätern der modernen Gesellschaft, zum Beispiel in den Wirtschaftssystemen, die auf dem Zwang zum Wachstum gründen und daher in ihrer inneren Struktur zutiefst lebensfeindlich sind.
Unter dem Vorwand des Fortschritts haben wir die in den Atomen schlummernden Urkräfte geweckt und den Entdeckern dafür reihenweise Nobelpreise verliehen. Heute nennen wir die Entdeckung böse, dabei ist sie weder gut noch böse, sondern nichts anderes als die natürliche Fortsetzung des im Kinde wirkenden Urtriebes, seinen Teddy zu zerstören, um zu sehen, wie er innen aussieht. Es ist das krampfhafte Streben nach Fortschritt, das uns Menschen zwingt, uns immer weiterzuentwickeln, selbst wenn diese Entwicklung in eine Sackgasse führt. Dieses Streben entwickelt seine eigene Dynamik, die uns über die Grenzgebiete der Gegenwart hinaus ins Niemandsland der Zukunft trägt. Und da das Prinzip des äußeren Fortschritts dem Prinzip der inneren Entwicklung des Menschen entspricht, dürfen wir dieses Prinzip als solches nicht ungestraft in Frage stellen, auch wenn wir mit den Schattenseiten des Fortschritts konfrontiert werden. Denn es ist allemal folgerichtig, was geschieht – selbst wenn es das Ende wäre. Verlust und Zerstörung wären nicht das Risiko des Fortschritts, wenn sie nicht als solche schon im menschlichen Verhalten angelegt wären. Die menschliche Entwicklung ist ohne Risiko und Zerstörung gar nicht denkbar – ob wir dies wahrhaben wollen oder nicht.
Die furchtbare Bedrohung durch eine Technologie, die alles Leben vernichten kann, wenn sie in falsche Hände gerät, löst längst vergessen geglaubte Urängste aufs Neue aus. Das ist der Preis für den Fortschritt, für die Atombombe und den Retortenmenschen, für den Computer, der den Menschen überflüssig macht, für die digitalen Träume virtueller Realitäten, die langsam in die Wirklichkeit eindringen, für die Gentechnologie, die Menschen als maßgeschneiderte Produkte aus dem Embryo-Supermarkt heranwachsen lässt, wo Gehirne gespeichert, programmiert und direkt miteinander verbunden werden, um globale Gruppeninteressen zu sichern, Bedürfnisse, die sich über Bildschirme selbst aussteuern und sich das Blaue vom Himmel herunter simulieren. Wir sind aus Zuschauern des Schöpfungsdramas zu seinen Regisseuren geworden, die ihre inneren Bilder in ihren eigenen Schöpfungen inszenieren – ein Trauma wie aus Dantes höllischem Inferno, das aber immer auch die Möglichkeit des geistigen Erkennens in sich trägt. Schließlich erkennen wir nicht aus Lust an der Erkenntnis, sondern die Erkenntnis ist die einzige Erfahrung, um die Bedingungen und die Grundlagen unserer Selbsttäuschung kennen zu lernen und damit die Voraussetzung zu deren Beseitigung. Der Wunsch nach Wissen ist der Wunsch nach Erlösung, der Wunsch nach Befreiung von sich selbst. Die inneren Ängste sind dazu da, in eine sichtbare Form gegossen zu werden, und das kann man nur dadurch, indem man sie auslebt. Das Ausleben bedingt das Scheitern, und das Scheitern ist die Form, die eigenen Gespenster zu erkennen. Sich im Scheitern zu erkennen, ist Erkenntnis, und diese ist gleichzeitig das Ziel, das allein im Scheitern liegt.
Das Schicksal, das uns von außen trifft, ist immer auch ein Anstoß zur Heilung, ein Entwicklungsprozess, um die eigene Mitte zu finden und um die Ganzheit unseres Selbst zu verwirklichen. Wenn wir das, was in uns selbst verwirklicht werden will, nicht freiwillig annehmen, dann wird es uns aufgezwungen. Natürlich ist diese Art der Schicksalserfüllung nicht besonders angenehm. Zwang und Reibungsverluste setzen jedoch eher, als es ein glatter Verlauf vermöchte, die notwendigen Reparaturarbeiten in Gang. Und darin erkennen wir die Weisheit des Schicksals: Krisen, Krankheiten und Katastrophen machen nicht nur ehrlich, weil sie die Auswirkungen unserer eigenen Handlungen sind, sondern sie machen auch vollständig, weil sie eben auch jenen Teil unserer selbst in die Welt bringen, demgegenüber wir in unserem Inneren blind sind.
So schrieb Steve M., der mit 35 Jahren starb, am Schluss seines Abschiedsbriefes: Well, weil ich Aids bekam, lernte ich, mich selbst zu lieben, wie ich wirklich bin, und der Wahrheit ins Auge zu sehen, und gipfelte im selbstvernichtenden Exkurs, und das war die Erfahrung wert … In diesem Bekenntnis liegt nicht nur ein Akt höchster Selbsterkenntnis, sondern auch ein Überwinden des eigenen Endes, ein seelisches Ringen, das dabei so sehr mit der Struktur der menschlichen Entwicklung verbunden ist, dass man fast meinen könnte, nur im Angesicht des Schattens sei Licht!
1 vgl. auch Baphomet, S. 223-225
2 Mittelalterliche Überlieferung, zitiert nach: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, (Neuaufl.) Berlin 1986, Bd. 4, S. 236.
3 Baphomet: Das Licht der Hölle (Bisher unveröffentlichte, apokryphe Schrift)
4 Der Beiname des Teufels, Luzifer, stammt aus dem kirchenlateinischen Lucifer. Dies bedeutet eigentlich „Lichtbringer“ (zu lateinisch lux „Licht“ und ferre „tragen“).
5 Aleister Crowley: Das Buch Toth. Urania: Neuhausen (7. Aufl.) 1991, S. 113
6 Der patriarchalische Monotheismus beruht maßgeblich auf der Zwangsvorstellung, der „Geist der Schlange“ wäre durch Evas Fehltritt im Fleisch verankert. Um das sündige Leben aus dem Leib der Mutter zu erlösen, braucht es einen Akt der Heilung – die Taufe. Da der Mutterschoß seine Frucht mit dem Bösen infiziert, muss das Kind durch den priesterlichen Akt der Sühne gleich nach der Geburt von der Sünde, den Teufel im Bauch der Mutter berührt zu haben, reingewaschen werden – ein wahrer Zirkelschluss unbewusster Schuldverdrängung.
EINFÜHRUNG IN DEN TAROT
Wenn jemandem ein Stück eines Dachziegels auf den Kopf fällt, wird er, sofern er ein „Realist“ ist, dem Hausbesitzer die Schuld an dem Vorfall geben und diesen womöglich sogar zur Verantwortung ziehen. Er kann dabei von der äußerlich feststellbaren Wirkung, etwa einer Platzwunde mit Gehirnerschütterung, auf eine äußerlich feststellbare Ursache – nämlich ein sanierungsbedürftiges Dach – verweisen. Ein „Esoteriker“ dagegen würde die umgekehrte Schlussfolgerung ziehen. Er würde von der äußerlich feststellbaren Wirkung auf eine innere, vermutete Ursache schließen. Er würde sich etwa fragen, was sein „Höheres Selbst“ ihm mitteilen wollte, indem es ihn ausgerechnet in jenem Moment an dem Haus vorbeigehen ließ, als dort der Dachziegel herunterfiel.
Welches ist nun die richtige Betrachtungsweise? Beide sind richtig – zumindest aus der jeweiligen Perspektive des Betreffenden. Das Dach war reparaturbedürftig und stellt insofern unzweifelhaft eine Ursache der beschriebenen Wirkung dar. Aber auch die Tatsache, dass der Geschädigte gerade in dem Moment, da sich der Ziegel löste, dort vorbeikam, stellt ebenso unzweifelhaft eine Ursache dessen dar, was insgesamt geschah. Wir sehen also, dass erst beide Ursachen zusammen die Wirkung des geschilderten Unfalls hervorbringen. Insofern besteht durchaus die Möglichkeit, dass es sich hier СКАЧАТЬ