So weit – so gut. Ich versuchte, meinen Hang zum Zynismus ein bisschen zu zügeln und dem unvoreingenommenen Leser nicht länger gegen die Gehirnzellen zu treten, wenn ich meinem alten Drang, die Denkgewohnheiten und Verhaltensnormen in den Köpfen der Menschen durcheinander zu wirbeln, frönte. Aber war es das wirklich – oder doch nicht ganz? Fehlte da nicht noch etwas, oder war ich am Ziel? Gewiss, im Nachhinein betrachtet fehlte noch die Krönung, das Highlight, das eine Neuauflage zwingend machte: sozusagen der entscheidende Kick – aber das war mir damals überhaupt nicht bewusst. Deshalb kam mir der Schöpfergeist in seiner Lieblingsrolle als „Freund Zufall“ zu Hilfe. Beim Redigieren dieses Buches bemerkte ich plötzlich, wie der Blick einer Bekannten, die mich gerade besuchte und namentlich nicht erwähnt werden möchte, über Gigers Baphomet1 streifte, dessen Titelbild neben meiner Tastatur lag. Da ich wusste, dass sie beruflich mit Mikroben zu tun hatte, meinte ich schmunzelnd zu ihr, dass dieses Monster auf dem Cover doch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren Lieblingsgeschöpfen hätte. Es entspann sich spontan eine angeregte Konversation und plötzlich war uns klar: Es schien, als wollte den vorhandenen Karten noch eine neue, zusätzliche Dimension hinzugefügt werden: Das Schöpfervirus. Zur selben Zeit nächtigte auch Patricia bei mir im Schlösschen, die junge Künstlerin aus Augsburg, die schon für meinen Crowley-Führer2 2007 einige wunderbare Illustrationen anfertigte, und war sofort bereit, ein paar Zeichnungen zu diesem schier unerschöpflichen Thema beizusteuern. Damit war die Sache beschlossen. Natürlich dauerte es noch ein paar Wochen, bis der zusätzliche Trumpf nahtlos in die vorhandene Kartenreihe eingefügt war – aber der erste Schritt war getan.
Das war der „Missing Link“, der diesem Buch noch fehlte, das Herzstück, in dem sich spirituelles Ergründen, künstlerisches Empfinden und wissenschaftliches Erkennen die Hand reichten. Deshalb möchte ich Patricia und dem unergründlichen Geist in der Maske des Zufalls eine große violette Rose schenken als Ausdruck meiner Liebe für den kreativen Umstand und schöpferischen Akt, ganz entscheidend dazu beigetragen zu haben, was dieser Neuauflage aus meiner aktuellen Sicht überhaupt erst zur Legitimation verhilft: dem Einbringen neuer Einsichten in einem neuen Archetypus – einer neuen Karte.
St. Gallen, am Ruhberg, November 2008, C. F. Frey
1 H. R. Giger’s Necronomicon, Bd. 1
2 Akrons Crowley Tarot Führer, 2007 AGM AGMüller Urania, Neuhausen/Schweiz
H. R. Gigers „Baphomet“
The Spell IV, 1977, Werk-Nr. 331, 2,40m x 4,20m
Nach Art eines Triptychons gestaltet, besitzt das Bildwerk drei Flügel, die verschiedene Sphären der Schöpfung darstellen. Zur Rechten Baphomets (links vom Betrachter) befindet sich das „Paradies“, dessen lichtvolle Sphären durch das helle, aufrechte Pentagramm verkörpert werden. Zur Linken ist die „Hölle“, symbolisiert durch das dunkle, inverse Pentagramm. Baphomet selbst in der Mitte vertritt die Daseins-Ebene des Menschen, die „Realität“, in der die Polaritäten sich gegenseitig durchdringen, bekämpfen oder ausgleichen (dargestellt durch die beiden ineinander verflochtenen Pentagramme, die die Verbindung von Mikrokosmos und Makrokosmos zum Ausdruck bringen). Die symbolischen und allegorischen Bezüge der figürlichen Darstellungen verweisen auf den Bereich des Stirb und Werde – des Todes und der Wiedergeburt.
DIE SIEBEN SIEGEL DES BAPHOMET
Der gehörnte Gott
Mir ist der Doppelköpfige nie erschienen, so sehr ich ihn auch beschwor. Ich habe den Karfunkel nie erblickt. Mag es also so sein: wem der Teufel nicht mit Gewalt den Hals in den Rücken dreht, der wird auf seinem unaufhaltsamen Weg ins Land der Gestorbenen niemals den Aufgang des Lichtes erblicken. Wer aufwärts klimmen will, muss abwärts steigen, dann erst kann das Untere zum Obern werden.
Gustav Meyrinck
Der Baphomet ist die eselsköpfige Kultfigur der Tempelritter, der Bock des Sabbats im mittelalterlichen Hexenglauben, dessen Ursprung unbekannt ist.1 Auf alten Darstellungen wird er meist auf einem Thron erhöht oder auf einem dreibeinigen Schemel inmitten ekstatischer Frauen gezeigt. Theodor Reuß, um 1900 ein innovativer Logengründer, Begründer und Großmeister des O.T.O. (Ordo Templi Orientis), der auch Rudolf Steiner in die Freimaurerei einweihte, mystifizierte den Baphomet als androgynes Wesen aus dem Stoff aller Elemente und gleichzeitig deren Quintessenz. Auch Helena P. Blavatsky sah in Baphomet eine übersinnliche, spirituelle Essenz, ein psychisches Kraftfeld und ein kabbalistisches Werkzeug von großer Macht im Sinne ihrer eigenen spirituellen Magie. In vielen magischen Zirkeln und Gruppen des Hexenkultes wird er heute als Ursymbol ekstatischer Obsessionen und instinktiver Männlichkeit verehrt. In den kirchlichen Schmähschriften über den mittelalterlichen Okkultismus findet man Baphomet zusammen mit den üblichen Entstellungen alter heidnischer Symbolik vor. Dort wird behauptet, Okkultismus sei der Bazillus des Teufels, der die Menschen mit seinen Visionen von Geheimnis und Macht infiziere und sie dadurch in den Bann des Bösen ziehe. Unter dem Schleier der Verschwiegenheit und der Dunkelheit geschähen allerlei geheime Riten, Schwarze Messen, Teufelsanbetungen bis hin zu Menschenopfern. Ebenso lächerlich und übertrieben wie die Haltung mittelalterlicher und moderner Hexenjäger ist aber auch das Verhalten der Satanspriester und vieler Anhänger des modernen Hexenkultes selbst. Sie erheben Baphomet zum Urgott schlechthin. Doch dies ist barer Unsinn, denn so wenig er der Feind Gottes ist, so wenig ist er Gott selbst. Rein historisch gesehen, erscheint er seit dem Mittelalter als Konglomerat der verschiedensten gehörnten Gottheiten, wie sie in vielen heidnischen Mythen und Kulturen in aller Welt und zu allen Zeiten auftraten.
Allein die alten Ägypter kannten fünf verschiedene gehörnte Gottheiten: die widderköpfigen Harsaphes und Chnum, die kuhköpfige Hathor, Gattin des Horus, Anukis mit Gazellenhörnern und Amun oder Ammon, den König der Götter und Stammhalter der Pharaonen, mit Widderhörnern. Auch die Kelten hatten ihren gehörnten Gott Cernunnos, die Isländer ihren Heimdall, der ein mächtiges Horn unter der Weltesche verborgen hielt. Auch der mittelalterliche Faust begegnete einem fliegenden Hirsch mit grossen Hörnern und Zincken, der wollte Doct. Faustum in die Klufft hinab stürtzen, darob er sehr erschracke.2 Auch unter den Griechen waren die verschiedenen Erscheinungsformen des Gehörnten sehr populär: Die Satyrn waren bocksgestaltige Fruchtbarkeitsdämonen und derb-lüsterne Begleiter des orgiastischen Dionysos; zechend streiften sie in Wald und Feld umher und spielten im Rausch den Menschen allerlei Streiche. Und da war Amalthea, im griechischen Mythos eine Ziege, die Zeus in einer Höhle säugte. Sie wurde auch als die Mutter des Pan aufgefasst, den sie zusammen mit Zeus aufzog. Pan selbst, der ziemlich lüsterne und begehrliche Gott mit Ziegenhörnern und –füßen wird auch mit Banebdjet, dem ägyptischen Ziegenbock aus Mendes, in Verbindung gebracht.
Seit das Christentum im frühen Mittelalter die geistige Vorherrschaft in Europa errungen hatte, erhielt die gehörnte Naturgottheit, die in so vielen unterschiedlichen Gestalten und unter mannigfachen Namen in der Mythologie der Völker ihren festen Platz hatte, allmählich einen völlig anderen Charakter. Sie wurde im wahrsten Sinne des Wortes „verteufelt“, denn den Teufel, der ursprünglich als Schlange vorgestellt worden war, versah man im Mittelalter mit Hörnern und Ziegenfüßen. Damit verschwand die spielerisch-unbekümmerte, exotisch und archaisch zugleich anmutende gehörnte Naturgottheit, die mit ihrer unermesslichen Potenz die ganze Erde bevölkerte, für Jahrhunderte völlig in der Versenkung. Ihre hochmittelalterliche Renaissance im Glauben der Templer СКАЧАТЬ