Название: Hannah von Bredow
Автор: Reiner Möckelmann
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783806237443
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Angesichts ihrer Sehschwäche schärfte Hannah ihr Gehör und schulte ihr Gedächtnis. Beides gelang ihr in außergewöhnlichem Maße, sodass sie in der Lage war, in ihren Briefen lange Gesprächsdialoge wiederzugeben. Ein Rätsel bleibt dennoch, wie sie es schaffte, ihr tägliches Leben ohne Brille zu bewältigen und mit sehr eingeschränkter Sehkraft unzählige Briefe zu schreiben und auch noch zu reiten. Nur im Kino oder im Theater trug sie eine Brille.
Den Verlauf ihres ersten Lebensjahrzehnts beschreibt Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen Ende des Jahres 1936 in knapper und plastischer Form: „Schönhausen – Berlin – Fiume-Sooß – Schönhausen – Berlin (immer im Winter bis auf 1903, wo wir in Fiume waren), Ende 1905 endgültiger Umzug nach Friedrichsruh, dessen Neubau vollendet war. Eine wohl ungewöhnlich glückliche, wenn auch wegen Misshandlungen durch Schweizerinnen ebenfalls ungewöhnlich gestörte Kindheit. Dazu eine tödliche Krankheit, weil die eine Démoiselle mir Gift gab (sie kam ins Irrenhaus, die berühmte Sadistin, der Clare Sheridan in ihrer „Nuda Veritas“ ein Denkmal setzte). Dazu auch ewige Behandlungen meiner Hand, meines Armes etc. und sehr, sehr viel Unterricht in drei Sprachen, ebenfalls sehr viel Reiten. Nothing could damp my joie de vivre.“
Hannah von Bredows zweites Lebensjahrzent erfährt eine ausführlichere Beschreibung: „Bis auf den Schock von Papas Tod (1904), vom Tod meines sehr geliebten Großvaters Hoyos (beide starben drei Wochen voneinander entfernt) wohl meine vollkommen glücklichste Zeit … Dann kam der erste Versager. Ich wollte à tout prix, da ich mit 15 Jahren schon Primareife ohne Griechisch hatte, das Abitur in Hamburg machen, hätte dafür täglich hereinfahren und eine Schule besuchen müssen und das war ein unfasslicher Gedanke. Ich schob es also auf, bis 1910, wo ich 17 wurde; und da war ich den ganzen Sommer in Nehmten mit den Geschwistern, auch in Sirhagen, machte Kochkursus etc. und lernte wie eine Besessene bis nach Mitternacht alles, was für ein Gymnasium in Frage kam. Dann ließ mich Mama im November nach Wien kommen, wo sie in einem Sanatorium war und kleidete mich ein. Aufgalopp: Weekend-Party bei Auerspergs in Goldegg, bei Rohans in Albrechtsberg, Aufenthalt in Sooß, …“
Das Leben der 18-jährigen Hannah nahm dann weiter an Fahrt auf: „Winter 1911 in Berlin, Gasthörer auf der Universität, Hörer bei Wölfflin, Harnack, Erich Schmidt, massenhaft Gelehrte im Haus, Tanzstunde und als Abschluss schwere Masern. Ich verlor meine Haare, die in unerhörten Mengen vorhanden gewesen waren, und damit wohl, wie Samson, meine Energie.2 Denn ich versuchte noch einmal mit Mama das Abitur zu erreichen und sie erklärte mir, dass ich sie und die ganze Familie unglücklich machen würde, wenn ich nicht zu O’mama nach Wien ginge und die Spring Season mitmachte. Ich gab also nach und tanzte Nacht für Nacht in Wien, mit Hochgenuss, mit Vergnügen, mit einer immer steigenden Liebe zu sehr alten Männern, oh sehr, sehr alt, so 70 oder mehr, und ich wurde zu allen Dîners der Botschaften eingeladen, verließ alle ‚Comtessenfeste‘, lebte auf den Botschaften aller Länder, vergaß Abiturwünsche, las, las, las wie ein Narr alles Historische, alles Politische, alles was ich bekommen konnte und kam in ein wahres Feuer der Begeisterung. Als ich im Juli heimkehrte, war ich mir über eines klar, dass ich noch mehr Menschen kennen lernen und vor allem nach England fahren müsse.“
Hannah nutzte ihr Startkapital der drei Vater- bzw. Mutterländer Deutschland, Österreich und England bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 bei vielen Reisen und Verwandtschaftsbesuchen: „Das Leben wurde wirklich besser und besser, ich hatte das absolute Gefühl, dass es nur nette Leute gäbe, darunter amüsante und langweilige, aber im Grunde nur nette.“ Im Winter 1913 erlebte sie, 19-jährig in Berlin, „was man einen atemberaubenden Winter nennt, das kam durch das ‚double life‘. Denn ich machte alle Bälle für die Jugend und alle Dîners und Lunches für die Würdigen mit …“
Die ersten „Heiratsredereien“ kamen auf, „aber keine Verlobung, nur ein erpichter älterer Witwer, den ich sehr unterhaltend fand, und der für Tante Polly so reizend war. Dann 1914 im Sommer nach Kiel das letzte Fest in Friedrichsruh mit drei Männern, die Mama eligible fand, und die mich langweilten und mit dem Witwer, der so besonders gut tanzte und der mir so leidtat, wegen des mir unbekannten Kindes.“ Der gute Tänzer war Leopold von Bredow, den Hannah am 15. März 1915 heiratete.
Die Monate zuvor, besonders der Sommer 1914 in Kiel, bildeten zweifellos Höhepunkte im jungen Erwachsenenleben der Hannah von Bredow, einen unternehmungsreichen Ausklang der Jahre einer Junggesellin. Hannahs Tagebuch vom 14. März bis 21. Juni 1914 gibt auf über 100 engbeschriebenen Seiten erschöpfend Auskunft über diese bewegte Zeit mit nahezu täglichen Ortswechseln: „Berlin – Friedrichsruh – Nehmten – Friedrichsruh – Wien – Friedrichsruh – Victoria-Louise (Kiel) – Friedrichsruh – Marutendorff – Friedrichsruh – Schönhausen – Berlin – Friedrichsruh – Brandenburg und wieder Friedrichsruh – Heidelberg.“
Die turbulenten Monate begannen mit einer Einladung der preußischen Kronprinzessin Cecilie ins Russische Ballett im Berliner Kronprinzenpalais. Hannah fühlte sich „wohl und ganz hoheitlich“. Minutiös beschreibt sie die Garderobe, das Gebaren und die Eigenheiten einzelner Hofadeliger. Weniger hoheitlich erschien ihr indessen das Pausenbuffet in Gestalt von „Esswaren, bei denen roher Lachs und Sardellen, sowie Heringe und Salzgurken prädominierten; sie gaben einen penetranten Geruch von sich, der durch einige Käsebrote noch vermehrt wurde.“
Akribisch vermerkt Hannah ihre „sämtlichen Engagements“ bei den insgesamt 28 Bällen im Winter 1914, beginnend mit einem Ball im Hause des Diplomaten Carl von Schubert am 25. Januar und endend mit dem Kronprinzen-Ball am 18. März. Ebenso detailliert listet sie mit Namen die „ausgehenden Mädeln im Winter 1914“ ebenso auf wie die „jungen Frauen und jungen tanzenden Herren“, angefangen bei denen des Gardes du Corps über die Brandenburger Kürassiere bis zu den Diplomaten und Referendaren. Schließlich finden sich in ihrer Liste auch „untätige, wenig anziehende Leute, die manchmal auftauchten“.
Der Ballsaison in Berlin ließ Hannah einen einmonatigen Aufenthalt in Wien bei ihrer Großmutter Alice Hoyos, geb. Whitehead, folgen. Hier standen Theater- und Konzertbesuche, die Teilnahme an Sportveranstaltungen, Tanz- und Gartenfesten sowie Einladungen zu Frühstück, Mittag- und Abendessen in Gesellschaft von Wiener Prominenz im Mittelpunkt. Schließlich erreichte sie die Einladung zur Schiffstaufe der „Bismarck“ am 20. Juni 1914 in Hamburg.
Diese Einladung, ausgesprochen gegenüber Marguerite von Bismarck und den vier älteren Kindern, kam nicht von irgendwem, sondern von Kaiser Wilhelm II. persönlich. Hannah wurde nicht nur die Ehre der Einladung zuteil, des Kaisers Wunsch war vielmehr, dass Hannah „die Flasche schwingen und die Taufe vollziehen“ sollte. Nachdem die Flasche bei den Worten „auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers taufe ich dich ‚Bismarck‘“ unversehrt geblieben war, trat seine Majestät persönlich in Aktion. Er ergriff die Magnum von Kupferberg Gold und „schleuderte sie mit solcher Kraft und Geschicklichkeit gegen das Schiff, dass sie in tausend Stücke flog“. Hannahs Verlegenheit dämpfte er mit der Bemerkung: „Herren verstehen sich besser auf Sekt wie Damen, was?“
Im Anschluss an die Schiffstaufe in Hamburg konnte sich die Taufpatin Hannah gleich einer weiteren kaiserlichen Einladung erfreuen. In ihrem ausführlichen Tagebuch über dies Ereignis vermerkt sie: „Ich habe mir immer gerade das so sehnlich gewünscht, und nun als Kaisergäste auf dem Ballin’schen Schiff Viktoria-Luise, es wird gewiss köstlich.“ Sie und die drei Jahre jüngere Schwester Goedela „bekamen als Kaisergäste wunderbare Kabinen“ und am 26. Juni kamen sie von Hamburg „bei köstlichem Sommerwetter auf der Kieler Förde an“. Am Tag darauf war sie zum Kaiserdiner auf der Staatsyacht Hohenzollern, wo sich der Kaiser ihr mehr als eine halbe Stunde lang widmete: „Er war ganz fabelhaft gut aufgelegt und voller Witze.“
Am 28. Juni 1914 endete das ungetrübte Vergnügen, als Hannah die Kriegsschiffe in der Förde auf Halbmast geflaggt sah: Erzherzog Franz-Ferdinand von Habsburg war tot. Gerüchte, СКАЧАТЬ