Grundbegriffe der Ethik. Gerhard Schweppenhäuser
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СКАЧАТЬ der Sittlichkeit« (Eisler 1922, 203).

      Dieser Differenzierung liegt eine Einsicht zugrunde, die philosophisch ganz wesentlich ist: Moralische oder sittliche Phänomene sind keine Naturgegebenheiten, sondern etwas, was Menschen selbst hervorbringen, auch wenn sie sich darüber nicht im Klaren sind. Intuitiv handeln Menschen häufig so, als ob die Handlungsgrundsätze, die sie befolgen oder verletzen, unumstößliche Gegebenheiten wären, die unbedingt gelten. Gleichzeitig wissen sie, dass jene Handlungsgrundsätze dies keineswegs überall tun oder immer getan haben: andere Länder (oder Zeiten), andere Sitten.

      Heute ist die Position des moralischen Relativismus ein Gemeinplatz, gerade unter aufgeklärten Europäer*innen, die um keinen Preis eurozentrisch erscheinen wollen. Und dennoch neigt man intuitiv dazu, es nicht für bloß konventionell zu halten, dass es moralisch geboten ist, ein Kind [42]vor dem Ertrinken zu retten. Man neigt in der Regel zu der Überzeugung, dass es nicht nur gerechtfertigt, sondern unumgänglich ist, wenn man einen Menschen verachtet, der davon lebt, arglose alte Menschen um ihre Ersparnisse zu betrügen. Und als in unserem Kulturkreis die Einsicht zum Gemeingut wurde, dass solche Empfindungen nicht aus einer gottgewollten Ordnung folgen und dass es nicht mehr (und nicht weniger) als ein menschlicher Konflikt ist, wenn wir dagegen verstoßen, löste dies tiefste Irritationen aus. Nicht zuletzt bei denen, die das paradigmatisch formulierten: Dostojewski und Nietzsche bezahlten einen hohen Preis, als sie ihre erschütternde Frage aussprachen, ob unter den Menschen alles erlaubt sei, wenn es keinen Gott gibt.

      Die griechischen Philosophen befassten sich als Erste systematisch mit der Frage, wie moralische Prinzipien eigentlich begründet werden können, wenn man aus Beobachtung, Erfahrung und argumentierendem Nachdenken zu der Einsicht gelangt ist, dass sie nomothetisch – das heißt: gesetzt – sind und nicht als Tatsachen der Naturordnung anzusehen sind. Platon und Aristoteles vertraten den paradigmatischen Standpunkt, dass die (und nur die) moralischen Prinzipien Geltung beanspruchen können, die mit der Vernunft in Einklang stehen, wobei sie unter Vernunft noch nicht wie die Philosophen der Neuzeit ausschließlich die Vernunft des Individuums verstanden, sondern eine Vernunft des Ganzen, so etwas wie eine kosmologische Weltvernunft. Die Frage, die sich Philosophen schon seit jeher stellten und die zur Fragestellung der Ethik in der Moderne geworden ist, lautet: Wie können Moralprinzipien mit Geltungsanspruch formuliert, begründet und angewendet werden, wenn weder Naturordnung, Weltvernunft [43]oder göttliche Schöpfungsordnung als Legitimationsinstanzen (und gegebenenfalls sanktionierende Gewalten) geeignet sind?

      Unter der Voraussetzung, dass man ›Ethik‹ als philosophische Theorie der Moral begreift, ist jedoch keineswegs eindeutig oder unumstritten, was unter dem Begriff zu verstehen sei. Ethik, schrieb der Soziologe Niklas Luhmann, ist die »Reflexionstheorie der Moral« (Luhmann 1989, 358). Diese Formel ist brauchbar, auch wenn sie nicht eindeutig ist (oder vielleicht ist sie es gerade deswegen). Dass Ethik die »Reflexionstheorie der Moral« ist, kann nämlich durchaus Verschiedenes bedeuten: In Ethiken wird systematisch über Sitten, Werte und normative Geltungsansprüche nachgedacht. Es wird über Kriterien sinniert, nach denen wir beurteilen können, ob Handlungen als moralisch gerechtfertigt gelten können oder zu missbilligen sind; es werden Fragen der moralischen Bewertung von Handlungen, Gütern oder Lebensformen erörtert. Ethik ist dann ein begrifflicher Reflexionszusammenhang, der sich auf Phänomene und Theorien aus dem Bereich des Moralischen bezieht. Der Satz, Ethik sei die »Reflexionstheorie der Moral«, kann aber auch etwas anderes heißen, nämlich dass Ethiken Theorien sind, die bestehende Sitten, Gebräuche und Wertordnungen widerspiegeln. Unter Ethiken werden dann Moralkodizes verstanden, also Lehrgebäude, die mehr oder weniger zusammenhängend beschreiben, was im Zusammenleben von Menschen üblich ist, was als gut und was als böse gilt. In diesem Verständnis besteht die Funktion von Ethik darin, den sozialen Zusammenhalt zu stabilisieren, indem den Individuen ein Set von Geboten und Verboten vorgehalten wird, das sie mittels [44]Gewöhnung seit frühster Kindheit verinnerlichen und möglich selten problematisieren sollten.

      Tatsächlich liegen die Dinge philosophisch gesehen nicht so, wie Luhmann meinte: Ethik als Reflexionstheorie der Moral reflektiert ihren Gegenstand nicht bloß wie ein Spiegel, der keine begründete normativ-kritische Stellung zu seinem Gegenstand einnehmen kann. Vielmehr fragt philosophische Ethik nicht nur nach den Prinzipien und Geltungsansprüchen, die moralischen Überzeugungen jeweils zugrunde liegen; sie fragt vor allem, wie Moralprinzipien begründet werden und ob die Begründungen stichhaltig sind.

      2.4 Doppelsinn von Reflexion

      Gleichwohl bestehen zwei verschiedene, jeweils legitime Auffassungen davon, was ›Ethik‹ bedeutet, nämlich eine normative (oder: kritische) und eine funktionalistische Auffassung. Sie unterscheiden sich u. a. dadurch, was jeweils mit ›Reflexion‹ gemeint ist. Reflexion kann bedeuten, dass das denkende Ich sich auf sich selbst zurückbezieht. Vereinfacht ausgedrückt: Im Prozess der Reflexion denkt das Ich darüber nach, was es eigentlich bedeutet, ein denkendes Ich zu sein; darüber, inwiefern das denkende Ich durch kontinuierliches selbstbezügliches Denken zum Subjekt wird und inwieweit dieses kritische Selbstverhältnis des Subjekts sein Handeln bestimmt. Diese Bedeutung von ›Reflexion‹ ist für die Philosophie der Neuzeit paradigmatisch von Descartes im 17. Jahrhundert formuliert worden. Kant brachte das reflektierte Selbstverhältnis des Subjekts [45]später auf den Begriff, indem er zeigte, dass alle Vorstellungen und Denkakte des Subjekts in Sätzen formuliert werden können, die mit »Ich denke …« beginnen. Die Kontinuität der sich durchhaltenden und mit sich selbst identischen Subjektivität kommt dadurch zum Ausdruck, dass wir beispielsweise stets sagen können: »Ich denke, dass die Sonne scheint« (weil meine Sinne mir entsprechende Eindrücke vermittelt haben), statt: »Die Sonne scheint«.

      Reflexion kann aber auch schlicht bedeuten, dass etwas widerscheint: dass sich also etwas in etwas anderem spiegelt. Beide Bedeutungen hängen eng miteinander zusammen, und das ist auch nicht verwunderlich, da der Begriff der Reflexion aus der neuzeitlichen Physik stammt; genauer: aus der Optik, wo er das Zurückstrahlen von Licht meint. In der materialistischen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts ist dieser Aspekt wieder stärker in den Vordergrund getreten, durchaus auch mit einer kritischen Wendung gegen die cartesianische Reflexionsphilosophie, die dem selbstbestimmten Subjekt einen hohen Stellenwert zuschreibt und es, so meinten jedenfalls viele, von den Bedingtheiten seiner körperlich-materiellen Basis auf unzulässige Weise abkoppelt.

      Im Gegensatz dazu betonen materialistische Philosophien die Abhängigkeit unseres Denkens von determinierenden Faktoren der naturgesetzlichen und sozialen Wirklichkeit. Darauf hinzuweisen ist berechtigt und wichtig; das war für die Philosophie in der Antike ebenso fruchtbar wie im 18. und 19. Jahrhundert. Erst im 20. Jahrhundert wurde das materialistische Element in der Philosophie zur doktrinären Dogmatik. Die »Widerspiegelungstheorie« des dialektischen Materialismus stritt ab, dass es einen Bereich [46]der theoretischen Reflexion gibt, der autonom ist. Die Gehalte geistiger Gebilde könnten demnach ohne Rest aus den materiellen Bedingungen ihrer Entstehung abgeleitet werden. Alle »Denkprodukte«, so wurde gelehrt, würden die gesellschaftlichen Determinanten ihrer Urheber*innen widerspiegeln, mit all ihren Widersprüchen und rück- oder fortschrittlichen Implikationen. So auch auf dem Gebiet der Moral: Die »bürgerliche Moral dient den Interessen der Ausbeuterklassen, die kommunistische Moral dem Klassenkampf des Proletariats bzw. dem Aufbau der kommunistischen Gesellschaft«, verkündet z. B. die 22. Auflage von Wilhelm Liebknechts Volksfremdwörterbuch aus der DDR (Liebknecht 1953, 171). Dieser Ansatz bedeutet insofern das Ende der Moralphilosophie, als Freiheit und Selbstbestimmung der Boden entzogen wird. Und so war es wohl auch gemeint. Der dialektische Materialismus betrachtete normative Geltungsansprüche reduktionistisch und wollte sie funktional auflösen. In Betracht gezogen wurde nicht der womöglich objektive Geltungsanspruch von Normen, sondern ihre Funktionalität im Hinblick auf die Erhaltung des Sozialsystems (Rentsch 1994, 114 f.).

      Man kann nun aber nicht sagen, dass die zwei unterschiedlichen Auffassungen von Reflexion nichts miteinander zu tun hätten. Das lateinische Wort reflectere bedeutet ›zurückbeugen‹. In der Optik beugt sich der reflektierte Lichtstrahl zurück in die Richtung, aus der er kam (der Lichtweg ist СКАЧАТЬ