Grundbegriffe der Ethik. Gerhard Schweppenhäuser
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СКАЧАТЬ Handelns in der Form der Intersubjektivität möglicher umgangssprachlicher Verständigung begründet sind«, gab ihm Anlass zur »Hoffnung […] auf eine Ethik der Rede« (Habermas 1972, 92). Für ihn erwies sich »die Struktur möglicher Rede, […] die Form der Intersubjektivität möglicher Verständigung als einziges Prinzip der Sittlichkeit« (Habermas 1970, 116).

      Während die Diskursethik in Apels Version praktische [58]Normen begründen soll, geht es bei Habermas lediglich um eine Meta-Norm, die den Maßstab für die rationale Prüfung fraglicher Geltungsansprüche von problematisierten Handlungsnormen in praktischen Diskursen abgeben kann. Diese Meta-Norm ist die intersubjektive Verständigung. Legte Habermas zu Beginn noch großen Wert darauf, dass die »Ethik der Rede« die Perspektive einer vorweggenommenen idealen Lebensform impliziere, so verschob sich sein Interesse schon bald auf die konstitutive Funktion moralischer Normen für soziale Gemeinschaften. Zunächst war »Verständigung« noch ein radikal ansetzendes Konzept zur Kritik der konkurrenzgesellschaftlichen Überformung kommunikativ-verständigungsorientierten Handelns durch strategisch-zweckrationales Handeln. In seiner späteren Ausarbeitung der Diskursethik bilden ›praktische Diskurse‹ das Medium, in dem sich individuelle Interessen und die Vergesellschaftungsansprüche des Kollektivs zwanglos aufeinander beziehen lassen würden, weil die Teilnehmer*innen erfahren, dass sie ihren jeweiligen Anspruch auf Selbstbestimmung nur dann zur Geltung bringen können, wenn sie von Voraussetzungen ausgehen, die allen Teilnehmern gemeinsam sind.

      Doch freie Selbstbestimmung im Diskurs ist begrenzt, denn wenn gesprochen wird, muss die Einordnung der Einzelnen in das Kollektiv der Sprechenden immer schon stattgefunden haben. In der Sprache gehen die universalistische Perspektive herrschaftsfreier Verständigung und die unterordnende Gewalt dessen, was sich als gesellschaftlich Allgemeines durchsetzt, ineinander über.

      Habermas hat gesehen, dass moralische Rationalität allein durch den Nachweis, dass sie ihr Fundament in der [59]Sprache hat und unverzichtbar für Verständigung und Kooperation ist, nicht wirkmächtig wird. Dazu bedarf es historisch-gesellschaftlicher Bewegung. Er hebt hervor, dass moderne westliche Zivilisationen durch Manifestation von Normativität in politischen und gesellschaftlichen Institutionen gekennzeichnet sind. Ohne Verinnerlichung der Gewissensinstanz, ohne Etablierung einer an Menschen- und Grundrechten orientierten Rechtssphäre und ohne demokratische Öffentlichkeit wäre aller moralisch-universalistischen Prinzipienreflexion die Basis entzogen. Denn: »jede universalistische Moral ist auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen« (Habermas 1986, 28).

      Als kantianische Moralphilosophie enthält sich die Diskursethik der Stellungnahme zu inhaltlichen Fragen eines guten Lebens. Sie geht vom moralisch Gesollten aus. Sie postuliert, dass das moralisch Gerechtfertigte von allen vernünftigen Wesen gewollt werden muss. Und sie besteht darauf, dass diese Grundannahmen allgemein gelten. Daher ist den Diskursethikern vorgehalten worden, dass sie Fragen ausgrenzen, die für eine zeitgemäße Ethik von großer Bedeutung sind. Es gehe doch nicht nur um rational ausweisbare Standards dessen, was als das normativ Richtige bezeichnet wird, sondern auch darum, wie Menschen leben wollen oder sollen und was das Gute vom Bösen unterscheidet. Der gleiche Vorwurf war seinerzeit Kant gemacht worden: Die Ethik werde formalisiert und alles Inhaltliche, das eine philosophische Ethik für Einzelne, aber auch für Gruppen und Gemeinschaften relevant macht, ausgeblendet.

      Auf Kant werden wir noch ausführlich zurückkommen (siehe Kap. 5.1 und 6.1–2). Habermas wollte mit der [60]Ausblendung der Fragen nach dem Guten, den Werten und den Tugenden verdeutlichen, dass die Diskursethik nicht den vermessenen Anspruch erhebt, den Menschen sagen zu können, was sie tun sollen. Man solle lediglich formale Rahmenbedingungen klären, unter denen Menschen das selbst herausfinden können. Um die Not des Ausblendens als eine Tugend kluger Selbstbeschränkung kenntlich zu machen, verwies er darauf, dass die Diskursethik in Wirklichkeit eine Moralphilosophie des Diskurses sei; genauer gesagt, der diskursiven Klärung von Handlungsnormen und Gerechtigkeitsfragen.

      Doch ist diese Distinktion überzeugend? Waren – oder sind – Ethiken und Moralphilosophien nicht immer (auch) genau dafür zuständig? Indem man sagt, Moralphilosophie würde nur dort stattfinden, wo ausschließlich streng formal über Gerechtigkeit nachgedacht wird, während man es nur dort mit Ethik zu tun habe, wo ausschließlich über Werte, Güter und existentielle Fragen der Person nachgedacht wird, zieht man eine willkürliche Trennungslinie. Wir nehmen also zur Kenntnis, dass Habermas auf diese Unterscheidung Wert legt (übrigens anders als Apel, der die Diskursethik als inhaltlich-materiale Ethik der globalen Verantwortung verstanden wissen wollte). Doch wir stellen auch fest, dass er damit noch einmal bekräftigt, dass seine Diskursethik einen Bereich außen vor lässt, der mit der Frage der Begründung von Normen nicht nur aufs engste zusammengehört, sondern zuinnerst mit diesem Bereich vermittelt ist. Und deshalb ist es mit hohen Kosten verbunden, wenn dieser Bereich aus methodologischen Gründen hinausdefiniert wird.

      [61]3. Praktische Vernunft

      Im Folgenden werden ›Ethik‹ und ›Moralphilosophie‹ synonym gebraucht; beide Begriffe stehen, wie gesagt, für einen Reflexionszusammenhang, der sich – verstehend, erklärend und oft auch vorschreibend – auf die Gesamtheit dessen bezieht, was in der europäischen Philosophie seit der Neuzeit so schön als »praktische Vernunft« bezeichnet worden ist. Damit ist all das gemeint, was im engen und weiten Sinne mit der Frage zu tun hat, wie Menschen ihr Leben so gestalten, dass individuelles Handeln und gemeinsame Praxis vernünftiger Rechtfertigung standhalten – dass also das Handeln von vernünftiger Reflexion und dadurch gewonnenen Grundsätzen angeleitet wird.

      Diese vernünftige Rechtfertigung wird in der Philosophie der Neuzeit immer als allgemein verbindliche Rechtfertigung gedacht. Das ist hier ganz buchstäblich zu verstehen: Praktische Vernunft muss allgemein und verbindlich sein. Ist von praktischer Vernunft die Rede, hat das eine doppelte Bedeutung: zum einen, dass versucht wird, konsistent über Praxis nachzudenken, und zum andern, dass Vernunft praktisch werde – dass also vernünftige Gründe und Maximen bestimmen, was geschieht, sei es in individuellen Lebensfragen oder in kollektiver Praxis. Beide Male zielen entsprechende philosophische Überlegungen auf einen allgemeingültigen Zusammenhang.

      Das war in der Antike anders. Hier war praktische Vernunft, etwa bei Aristoteles, das Vermögen, zu erkennen, was für die Einzelne und den Einzelnen sowie für die Polis gut ist, und die eingeübte Fähigkeit, das individuelle Handeln darauf einzustellen. Dem lag kein deduzierbares, [62]rationales Moralprinzip zugrunde, sondern eine solide Vertrautheit mit den Sitten und Gebräuchen des jeweiligen Gemeinwesens. Was in Athen gut und gerecht war, das musste es an einem anderen Ort nicht unbedingt ebenfalls sein. Moral war dabei stets auch sozial differenziert (»Quod licet iovi, non licet bovi«, wie es im alten Rom hieß: Das, was den Göttern erlaubt ist, ist noch lange nicht dem Ochsen erlaubt).

      3.1 Begründbarkeit von Moral

      Noch vor der scheinbar endlosen und kontroversen Debatte, wie Moral begründet werden kann, ist in der Philosophie der Streit darüber angesiedelt, ob sie überhaupt begründet werden kann. Das Paradigma der Moralbegründung wurde vom platonischen Sokrates formuliert. Demnach ist moralisches Handeln vernünftiges Handeln: Niemand handelt wissentlich und willentlich schlecht bzw. unmoralisch, denn solche Handlungen schaden nicht nur dem Objekt der Handlung, sondern immer auch ihrem Subjekt. Niemand, so lässt Platon seinen Sokrates argumentieren, würde freiwillig die schlechte oder böse Handlung wählen, wenn er eine richtige, gerechte oder gute Alternative kennt.

      Das scheint zunächst nach Art eines Nutzenkalküls formuliert zu sein. Die Folgen schlechten oder bösen Handelns sind stets noch auf ihre Urheber zurückgefallen, daher ist es klug, gerecht und gut zu handeln. Doch Platon ging andere argumentative Wege als der individualistische Utilitarismus. Der von Platon entwickelte ethische Intellektualismus, der in Verbindung mit dem Namen Sokrates [63]berühmt geworden ist, belässt es nämlich nicht bei dem rationalen Vernunftinteresse, das auf das Interesse des Individuums an der Selbsterhaltung zurückgeht. Wer durch vernunftgeleitetes СКАЧАТЬ