Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Группа авторов
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft - Группа авторов страница 7

СКАЧАТЬ unserer Befunde: Auch wenn wir durchaus der Meinung sind, dass unsere Hauptergebnisse sich in vielem auf die Geschehnisse in anderen westeuropäischen Ländern übertragen lassen, gelten sie doch streng genommen nur für die Schweiz, etwa seit 1930.

      Ein Wort zu unserer Position als Wissenschaftler/innen. Wir nehmen eine dezidiert religionssoziologische Position ein, die religiöse und säkulare Phänomene «von aussen» betrachtet. Es geht uns allein darum, die Phänomene so genau wie möglich zu erfassen und zu erklären. Hingegen versuchen wir – so gut es geht – eigene Werte aus der Analyse herauszuhalten. Wir äussern uns also nicht dazu, ob das Schrumpfen oder Wachsen eines bestimmten Milieus zu begrüssen oder mit Sorge zu betrachten sei. Wir reden auch keiner religiösen, spirituellen oder säkularen |18| Richtung das Wort.20 Eine weitere Position unserer Studie ist der sogenannte «methodologische Agnostizismus»21. Hiermit ist gemeint, dass wir aus methodologischen Gründen die Frage nach der Wahrheit spezifischer religiöser, spiritueller oder säkularer Positionen ausklammern.22

      Soziologen – so der Volksmund – sagen, was jeder weiss, in einer Sprache, die keiner versteht. In diesem Buch haben wir uns alle Mühe gegeben, das Gegenteil zu beweisen und unsere Aussagen in leicht verständlicher Sprache darzustellen. Auf wissenschaftliche Fachausdrücke konnten wir zwar nicht völlig verzichten; wir haben aber versucht, schwierige Konzepte so einfach wie möglich zu erklären. Komplexere methodische Überlegungen und statistische Analysen haben wir in den Anhang gestellt.

      Eine Bemerkung zur Art, wie wir Befragte zitieren: Längere Zitate stehen ausserhalb des Fliesstextes, sind immer kursiv gesetzt und mit der (anonymisierten) Identität, dem Alter und der Konfession der betreffenden Person versehen. In Kapitel 3 und im Anhang finden sich Kurzbeschreibungen der Befragten, so dass interessierte Lesende einen (anonymisierten) weiteren persönlichen Kontext einzelner Befragter rekonstruieren können. Kurze Zitate im Text sind kursiv gesetzt und stehen in Anführungszeichen; nicht immer geben wir die Person an, die das Betreffende gesagt hat. Hier geht es uns darum zu zeigen, wie der gleiche Sachverhalt oft ganz unterschiedlich formuliert wird. |19|

      In Kapitel 2 stellen wir bisherige Theorien, unsere eigene Konkurrenztheorie sowie aus dieser abgeleitete Hypothesen vor. Kapitel 3 präsentiert in einem Überblick die vier Typen bzw. «Gestalten des (Un-)Glaubens». In Kapitel 4 beschreiben wir die sozialstrukturellen Eigenschaften und Selbstbeschreibungen der Typen, in Kapitel 5 gehen wir auf ihre Religiosität (Glauben, Praktizieren, Erleben) ein, und Kapitel 6 behandelt ihre Beziehungen zu Werten. In der Folge zeigen wir, wie sich die Typen in ihrem Verhältnis zu religiösen Anbietern (Kapitel 7) und ihrer Wahrnehmung der multireligiösen Gesellschaft (Kapitel 8) unterscheiden. In Kapitel 9 schliesslich kommen wir auf unser erklärendes Modell zurück, indem wir die Hypothesen aus Kapitel 2 empirisch prüfen. Kapitel 10 bündelt die Ergebnisse und schliesst mit einem Ausblick auf die Zukunft von Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. |20|

.

      2 Theorie: Religiös-säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft

      Jörg Stolz, Judith Könemann

      «Statt der betenden Wallfahrtszüge sieht man Sänger, Turner,

       Feuerwehrmänner, Schützen, Jahrgänger, Sonntagsschänder

       in Gesellschaft moderner Damen Berg und Thal überfluthen,

       in ungestümer Hast und unbezämbarer Gier

       nach freiem Athem und Lebensgenuss haschen»

      Pius-Annalen, 1875

      In diesem Kapitel stellen wir eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor, die versucht, die zu beobachtenden Veränderungen der Religion in der Gesellschaft zu erklären. Bisherige Erklärungsversuche haben zwar wichtige Einsichten zutage gefördert, sie weisen aber auch verschiedene Mängel auf. Insbesondere sind diese Ansätze manchmal zu beschreibend und zu unhistorisch. Die hier vorgelegte Theorie soll im Unterschied dazu in der Lage sein, die Phänomene in deutlicher Nähe zu den spezifischen historischen Gegebenheiten zu erklären. In diesem Kapitel behandeln wir zunächst die wichtigsten bisherigen Thesen und Theorien: die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungstheorie und die Markttheorie. Anschliessend stellen wir unseren eigenen Erklärungsansatz, die Konkurrenztheorie religiös-sozialen Wandels, vor. Aus dieser Theorie lassen sich verschiedene Hypothesen ableiten, die im Verlauf des Buchs empirisch getestet werden.23 |21|

      Säkularisierungstheorie24

      Die wichtigsten Klassiker der Soziologie – Auguste Comte, Herbert Spencer, Max Weber, Emile Durkheim und Karl Marx – waren allesamt überzeugt, dass die Folgen der Aufklärung, das Voranschreiten der Industrialisierung und die zunehmende Arbeitsteilung langfristig zu einem Niedergang des Religiösen führen müssten. Sie haben die Tradition begründet, die wir hier als «Säkularisierungstheorie» bezeichnen. Auguste Comte25 etwa dachte, die menschliche Gesellschaft entwickle sich gesamthaft von einem theologischen über ein metaphysisches zu einem vollständig wissenschaftlichen Stadium. Die Wissenschaft (und vor allem die Soziologie) würde also – so Comte – die Religion ersetzen. Max Weber26 war der Meinung, vor allem der Protestantismus habe (ungewollt) zur Entwicklung des modernen Kapitalismus geführt. Einmal entstanden, stosse die moderne kapitalistische Gesellschaft das Religiöse als eine ihr fremde «Wertsphäre» jedoch immer mehr ab.27 Durkheim28 schliesslich argumentierte, die moderne Gesellschaft zeichne sich durch eine immer stärkere Arbeitsteilung aus, was die Religion, die ursprünglich alles umfassen konnte, immer mehr schwäche.29

      Verschiedene Religionssoziologen haben die Säkularisierungstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgenommen und fortentwickelt.30 Sie heben jedoch je unterschiedliche zentrale Merkmale des Modernisierungsprozesses hervor. Wilson31, Luhmann32 und Casanova33 etwa halten das schon von Durkheim und Weber beobachtete Element der Ausdifferenzierung der Gesellschaft für besonders wichtig.34 Gemäss diesen Theoretikern differenziert sich die Gesellschaft, |22| wodurch verschiedene Systeme (z. B. Wirtschaft, Erziehung, Recht, Politik, Medizin usw.) entstehen, die nach je eigenen Gesetzen und «Logiken» ablaufen. Hinsichtlich der Bedeutung religiöser Bezüge in der Gesellschaft werden unterschiedliche Positionen vertreten, so halten Wilson und Luhmann daran fest, dass religiöse Bezüge durch die Ausdifferenzierung immer mehr in den Hintergrund gedrängt würden. Religion als eigenes System stehe in einer strukturellen Spannung zur Modernisierung und sei zudem nicht besonders leistungsfähig. Demgegenüber vertritt Casanova entschieden die These einer strukturellen Vereinbarkeit von Religion und Moderne. Differenzierung führe nicht notwendigerweise zu einem Niedergang religiöser Überzeugungen – auch wenn dies in Europa empirisch vielfach der Fall sei. Von dieser Ausgangsposition her entwirft Casanova das Modell der «öffentlichen Religion», deren Organisationsformen starke zivilgesellschaftliche Akteure sein können.35

      Eine zweite Form der Säkularisierungstheorie wird von Pippa Norris und Ronald Inglehart vertreten. Diese Variante stellt die Tatsache in den Vordergrund, dass es im Lauf der Modernisierung zu einer deutlichen Anhebung des Lebensstandards und einer Verringerung zentraler Lebensrisiken komme.36 Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt zeichnen sich etwa westeuropäische, stark modernisierte Länder durch grossen Reichtum, einen Wohlfahrtsstaat, hochwertige medizinische Versorgung, Versicherungen usw. aus. Da es bei Religion zentral um die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen gehe und da Modernisierung solche Situationen entweder zum Verschwinden bringe (z. B. Pest, Kindersterblichkeit) oder mit technischen, säkularen Mitteln bearbeitbar mache, sinke in modernisierten Ländern die Nachfrage nach Religion.

      Der Religionssoziologe Steve Bruce macht in einer dritten Variante der Säkularisierungstheorie СКАЧАТЬ