Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Группа авторов
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СКАЧАТЬ vom «Regime der Industriegesellschaft» zum «Regime der Ich-Gesellschaft» bezeichnen wollen.10 Vor dem Hintergrund eines beispiellosen Wirtschaftsaufschwungs von 1945 bis 1973 (das «Wirtschaftswunder») kam es in den 1960er |14| Jahren zu einer kulturellen Revolution, bei der Autoritäten aller Art angegriffen und das Individuum in seiner Eigenständigkeit zentral gesetzt wurde. Die sich seit der Aufklärung immer stärker durchsetzenden Ideen der Subjektivität, Freiheit und Selbstbestimmung wurden zum bestimmenden Lebensgefühl der Menschen. Damit avancierte das Individuum zur Letztinstanz von Entscheidungen aller Art, seien es politische, familiäre, ökonomische, konsumorientierte, sexuelle – oder eben auch religiöse. Sowohl im alten wie auch im neuen Regime finden wir religiös-säkulare Konkurrenz auf allen drei Ebenen: um Macht in der Gesellschaft, um Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus, um individuelle Nachfrage. Aber der zentrale Punkt, um den es sich in der Konkurrenz dreht, hat sich völlig verändert. Im alten Regime der Industriegesellschaft war Religion und Konfession ein für die Gesellschaft zentrales kollektives Identitätsmerkmal, und das Christentum wurde als verbindendes Grundmerkmal der Gesellschaft betrachtet. Im neuen Regime der Ich-Gesellschaft gilt dies nicht mehr. Religion und Konfession werden als private und optionale Identitätsmerkmale gesehen, und das Christentum wird mehr und mehr als nur eine Religion unter anderen behandelt. Im kollektivistischen Regime der Industriegesellschaft ging man von der selbstverständlichen Vorherrschaft des Christentums aus – die wichtigsten religiös-säkularen Konkurrenzen bezogen sich auf die Frage, wie viel Platz Reformierte oder Katholiken einnehmen konnten oder wie stark alternative Wertsysteme das Christentum bedrängten. Im individualistischen Regime der Ich-Gesellschaft ist die wichtigste religiös-säkulare Konkurrenz diejenige um individuelle Nachfrage. Religiöse Praxis wird nicht mehr sozial erwartet; sie gehört nicht mehr zur öffentlichen Person; vielmehr wird sie in den Bereich der Freizeit abgedrängt, wo sie sich gegen eine starke Konkurrenz mit anderen Formen von «Freizeitbeschäftigung» und «Selbstentfaltung» behaupten muss.11

      Das neue Regime der Ich-Gesellschaft hat nun in den letzten Jahrzehnten zu verschiedenen Effekten auf individueller wie auch kollektiver Ebene geführt. Auf individueller Ebene zeigen sich vor allem Tendenzen des «säkularen Driftens» und der fortschreitenden religiös-säkularen Individualisierung und Konsumorientierung. In sehr vielen Bereichen der Konkurrenz wählen Individuen die säkularen und nicht die religiösen Optionen. Andere Zeitverwendungen (Ausschlafen, Sport usw.) verdrängen den Kirchgang am Sonntagmorgen; säkulare Berufsgruppen (z. B. Psychologen, Coaches) nehmen die Stelle des kirchlichen Seelsorgers ein. Säkulare Erklärungen (z. B. Big Bang, Evolution) werden immer öfter als plausibler angesehen als religiöse Erklärungen (z. B. Schöpfung). Insbesondere in der Erziehung führen die religiös-säkulare Konkurrenz und die den Kindern neu gewährte Freiheit zu massenhafter Abwahl religiöser Optionen. Im Effekt wird |15| jede neue Generation stärker säkular als die vorherige. Ausserdem hat sich die vollständige religiöse Individualisierung und Konsumorientierung durchgesetzt. Die Menschen sehen sich normalerweise selbst als «letzte Autorität» in religiösen Fragen an und sind der Ansicht, dass man niemandem, auch den eigenen Kindern nicht, religiöse Ideen aufzwingen dürfe. Jede Person soll selbst auswählen und «konsumieren», was sie als am wichtigsten erachtet.

      Auf kollektiver Ebene zeigt sich, dass religiöse Typen oder Subtypen in der Ich-Gesellschaft vor allem dann Erfolg haben, wenn sie die säkulare Konkurrenz entweder radikal bekämpfen oder gerade versuchen, sie auf ihrem eigenen Feld zu übertreffen. Das gelingt am besten durch Schliessung, d. h. Ausschluss konkurrierender säkularer Möglichkeiten, wie es bei den Freikirchlichen praktiziert wird. Oder durch die radikale Aufnahme der Marktform, indem alle eigenen Angebote in die Form der käuflichen Ware gebracht werden – wie es die Anbieter des alternativen Typus vormachen. Verschiedene Mischformen werden ausprobiert – mit wechselndem Erfolg.

      Die wissenschaftliche Erforschung religiös-sozialen Wandels gleicht in manchem der Detektivarbeit. Genau wie ein Kriminalist muss der Sozialforscher sich auf vorhandene Fakten und Indizien stützen, aus denen er – immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftete – Schlussfolgerungen (Inferenzen) ziehen muss. Je mehr unabhängige Indizien in die gleiche Richtung weisen, desto sicherer wird die entsprechende Schlussfolgerung. Diese Technik wird in der Forschung häufig «Triangulation» genannt und ist für unsere Studie von grösster Wichtigkeit.13 Um unsere Befunde so gut wie möglich abzusichern, stützen wir uns auf eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Datenarten. Unsere wichtigste Datenquelle besteht in einer sogenannten Mixed-Methods-Erhebung in den Jahren 2008/9. Hierbei wurden 1229 zufällig ausgewählte, in der Schweiz wohnhafte Personen mit standardisierten Fragebögen zu Religiosität und Spiritualität befragt.14 Diese quantitative |16| Teilstudie kann als für die Schweizer Bevölkerung repräsentativ gelten. Ferner wurden 73 zusätzliche Personen (wiederum zufällig, aber nach Quoten ausgewählt) in halboffenen Interviews zu den gleichen Themen befragt. Diese Gesprächspartner erzählten uns während 60 bis 90 Minuten detailliert, wie sie aufwuchsen, wie sie heute zu Religiosität und Spiritualität stehen, was ihnen im Leben wichtig ist und wie sie ihre Kinder erziehen. Die Kombination der beiden Teilstudien ermöglicht uns die Triangulation von quantitativen und qualitativen Daten: Statistische Zusammenhänge können mit Erzählungen und individuellen Handlungsweisen in Zusammenhang gebracht werden, so dass wir ein schlüssiges Gesamtbild der Religiosität, Spiritualität und Religionslosigkeit in der Schweiz erhalten.15 Neben dieser Hauptstudie wurden auch die Volkszählungsdaten herangezogen sowie 22 repräsentative Befragungen zu Religiosität in der Schweiz ausgewertet.16 Unter diesen Befragungen sind die beiden Vorläuferstudien von 1989 und 1999 besonders wichtig, denn viele ihrer Fragen wurden durch unsere Studie direkt repliziert.17 Schliesslich haben wir zu Vergleichszwecken auch die Daten einer repräsentativen, ebenfalls Mixed Methods verwendenden Studie über evangelische Freikirchen in der Schweiz herangezogen.18

      Auch wenn wir in vielem auf früheren Arbeiten aufbauen, nehmen wir doch in Anspruch, in verschiedener Hinsicht einen neuen Beitrag zu leisten. Zum einen bieten wir eine neuartige Beschreibung der religiös-spirituellen Landschaft der Gesellschaft. Wir hoffen, dass unsere Typologie der Institutionellen, Alternativen, Distanzierten und Säkularen samt ihren Untertypen der zukünftigen Forschung dient und auch den Praktikern zur Orientierung eine gute Hilfestellung ist. Gegenüber den bisherigen Studien haben wir insbesondere darauf geachtet, nicht nur die hoch (und vor allem institutionell) Religiösen zu untersuchen, sondern auch der alternativen Spiritualität, den säkular Denkenden und der sehr grossen, aber bisher völlig vernachlässigten Gruppe der Distanzierten die gebührende Beachtung zu schenken. Zum anderen liefern wir eine neue Erklärung des religiösen Wandels, die wir Theorie der religiös-säkularen Konkurrenz nennen. Diese Theorie erklärt, so meinen wir, die vorliegenden Phänomene besser als alternative |17| Theorieangebote; ausserdem lässt sie sich besser mit historischen Analysen zusammenschliessen. Schliesslich betreten wir auch mit unserer Methode gegenüber den Vorläuferstudien Neuland, indem wir sowohl qualitative als auch quantitative Daten verwenden und die Phänomene sowohl statistisch als auch in ihrer subjektiv empfundenen Wirklichkeit darstellen.

      Wissenschaftliche Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Reichweite methodisch bedacht wird. Eine erste Grenze besteht darin, dass unsere Ergebnisse sich strikt auf die individuelle Ebene beziehen. Gemeinschaften und Organisationen – etwa Kirchen – kommen nur aus der Perspektive der einzelnen Menschen vor. Eine zweite wichtige Grenze unserer Studie ist, dass sich unsere Typologie und Erklärung auf christliche, alternative und konfessionslose Religiosität bzw. Religionslosigkeit beschränkt. Aus methodischen und organisatorischen Gründen schliessen wir Mitglieder nichtchristlicher Religionen und religiöser Minderheiten (z. B. Islam, Buddhismus, Hinduismus, Judentum, neue religiöse Bewegungen) von der Analyse aus. Ein Einbezug all dieser Religionen würde unseren Rahmen sprengen und ein ganz anderes (sehr viel aufwändigeres) Forschungsdesign erfordern. Ausserdem wurden im Nationalen Forschungsprogramm (NFP 58) zu «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft», dem auch diese Studie ihre Finanzierung СКАЧАТЬ