Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Группа авторов
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      Phineas Fletcher

      Wie immer man die heutige Gesellschaft charakterisiert – keine soziologische Beschreibung wird darum herumkommen, dem einzelnen Menschen, dem Individuum, einen hervorragenden Platz einzuräumen. Nie zuvor hat der einzelne Mensch eine solche Vielzahl von Entscheidungen in ganz eigener Sache treffen können, sei es in schulischer, politischer, ökonomischer, den Lebensstil betreffender, sexueller – oder auch religiöser Hinsicht. Nie zuvor hatte er so viel selbst zu verantworten, so viel allein zu bewältigen und zu verarbeiten, wenn seine Lebenspläne nicht gelangen. Nie zuvor schliesslich musste der Einzelne den Sinn seines Erlebens und Tuns so sehr aus sich selbst und aus den Konsequenzen seiner Entscheidungen schöpfen. In diesem Sinne leben wir heute in einer Ich-Gesellschaft.

      Auf den kürzesten Nenner gebracht, analysiert unsere Studie, welchen Einfluss die so gekennzeichnete Ich-Gesellschaft auf Religiosität, Spiritualität und Säkularität ausübt. Genauer formuliert, geht es uns darum zu erforschen:

       welche zentralen religiös-sozialen Typen in der Gesellschaft auszumachen sind. Als Typen bezeichnen wir dabei grosse Gruppen von Menschen, die sich durch gemeinsame Wahrnehmungen, Werte und sozialstrukturelle Merkmale wie auch soziale Grenzen auszeichnen;5

       welche religiösen und spirituellen Glaubensüberzeugungen, Praktiken, Werte und Wahrnehmungen diese religiös-sozialen Typen aufweisen; |11|

       wie sich die Religiosität, Spiritualität und Säkularität der Typen in den letzten Jahrzehnten verändert haben und wie dieser Wandel zu erklären ist.

      Jedes Kapitel unseres Buches liefert einen spezifischen Teil der Antworten auf diese Fragen.

      Natürlich liegt schon jetzt eine umfangreiche Literatur vor, die versucht, die religiös-sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in westeuropäischen Ländern zu beschreiben und zu erklären. Die gegenwärtig bekanntesten Theorien sind die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungstheorie und die Markttheorie.6 Gemäss der Säkularisierungstheorie haben Elemente der Modernisierung dazu geführt, dass Religion sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben immer unbedeutender wird.7 Gemäss der Individualisierungstheorie ist es nicht etwa zu einer Abnahme der Religiosität gekommen, sondern dazu, dass die Religiosität immer individueller und vielgestaltiger wird.8 Die Markttheorie schliesslich benutzt ökonomische Einsichten, um religiöse Veränderungen zu erklären. Ihr gemäss leben wir zunehmend in einem religiösen Markt mit religiösen Anbietern (Kirchen) und religiösen Kunden (Gläubige). Da der religiöse Markt in europäischen Ländern stark reguliert sei (d. h. kein freier Markt herrsche), würden sich die Menschen immer mehr von Religiosität entfernen. Erst wenn der Markt liberalisiert würde und neue Anbieter auf den Markt kämen, könne es wieder zu einem religiösen Aufschwung kommen.9 Alle drei Theorien überzeugen jedoch – wie wir in diesem Buch zeigen werden – nur zum Teil. Vor allem gelingt es ihnen nicht, die Gesamtheit der Phänomene befriedigend zu erklären, die Tatsache also, dass wir sowohl religiösen Niedergang als auch Aufschwung sehen, mehr religiöse Individualisierung, aber auch mehr Fundamentalismus, mehr religiöse Freiheit, aber auch mehr religiöse Indifferenz. Genau an dieser Stelle setzt unser eigener Beitrag an. Wir versuchen, eine befriedigendere Antwort auf die oben gestellte Leitfrage zu geben, und zwar mit einer Typologie, einer Theorie und einer These. |12|

      Ein erster Teil unserer Antwort auf die Frage, wie die Menschen in der Ich-Gesellschaft Religiosität, Spiritualität und Säkularität erleben, besteht in einer neuen Typologie. Auf einer abstrakten Ebene unterscheiden wir vier Typen: die Institutionellen, die Alternativen, die Distanzierten und die Säkularen. Jeder der Typen lässt sich anschliessend in Untertypen unterteilen. Der Sinn der Typologie besteht zunächst einmal darin, die komplexe Welt zu vereinfachen. Wer aufmerksam zuhört, wie heute Menschen in der Schweiz und anderen westeuropäischen Ländern von ihrer Religiosität, Spiritualität oder Religionslosigkeit berichten, wird zunächst mit einer riesigen Vielfalt konfrontiert. Dazu nur einige wenige Beispiele: Die 50-jährige Witwe Mima hat sich unter dem Eindruck verschiedener Todesfälle in der Familie von der katholischen Kirche distanziert. Aus ihr selbst nicht ganz verständlichen Gründen war sie auf das Schicksal, Gott und die Kirche wütend. Ganz anders Barnabé, ein 58-jähriger Landwirt. Er hat sich als junger Mann zum christlichen Glauben bekehrt, ist mit seiner Frau einer Freikirche beigetreten und bekleidet heute in dieser Gemeinde das Amt des Ältesten. Keinerlei Stabilität dieser Art findet man in der noch vergleichsweise kurzen Lebensgeschichte der 24-jährigen Studentin Julie. Sie wurde katholisch erzogen, durchlief eine atheistische Phase, fühlte sich dann von Esoterik und Buddhismus angezogen und interessiert sich seit dem plötzlichen Tod ihres Vaters wieder für das Christentum, nun allerdings das orthodoxe. Der 39-jährige Ingenieur Siegfried erzählt nochmals eine ganz andere Geschichte. Als er sich mit seiner Frau fragte, ob sie ihre zwei Kinder taufen lassen wollten, fiel die Antwort negativ aus. So zog das Paar die Konsequenz – und trat aus der Kirche aus. Betrachtet man die hier genannten Religiositätsformen im biografischen Kontext, so fällt zunächst das je Einzigartige jeder Person auf. Vermehrt man jedoch die Beispiele, so zeigt sich, dass im Hintergrund der einzelnen Lebensgeschichten immer wiederkehrende soziale Formen auszumachen sind, die sich als Typen und Milieus beschreiben lassen. In diesem Buch versuchen wir zu zeigen, dass Mima, Barnabé, Julie und Siegfried verschiedenen gut unterscheidbaren religiös-sozialen Typen und Milieus angehören, mit deren Hilfe wir besser verstehen, welchen religiösen Wandel die Schweiz in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Wichtig ist hierbei die Idee, dass wir die zentralen Eigenschaften, wie sie die eingangs gekennzeichnete Ich-Gesellschaft hervorbringt, in allen Typen wiederfinden. In allen Typen etwa erzählen uns die Menschen, wie sie sich in Bezug auf ihre Glaubensansichten und Praxis ganz auf sich selbst verlassen. Die Inhalte, Praxisformen und Glaubensansichten der einzelnen Typen unterscheiden sich dann jedoch drastisch. |13|

      Es geht uns allerdings nicht nur um die Beschreibung der Typen, sondern auch um deren Erklärung. Hierfür stellen wir in Kapitel 2 eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor. Gemäss dieser Theorie finden wir in allen Gesellschaften religiöse und säkulare (kollektive) Akteure, die um drei Dinge streiten: Macht in der Gesellschaft, Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus und individuelle Nachfrage. Um in dieser Konkurrenz bestehen zu können, verwenden die kollektiven Akteure verschiedene Strategien: Sie versuchen z. B. ihre Mitglieder zu mobilisieren, politische Aktionen zu starten, Skandale zu provozieren, Koalitionen einzugehen, attraktive Güter anzubieten usw. Hierbei werden sie von vier externen Faktoren beeinflusst: von wissenschaftlich-technischen Innovationen (z. B. Erfindung des Fernsehens), sozialen Innovationen (z. B. Erfindung der Demokratie), Grossereignissen (z. B. Kriege) und soziodemografische Faktoren (z. B. unterschiedliche Geburtenraten). Die Konkurrenzkämpfe führen im Effekt zu diversen höchst interessanten Ergebnissen, deren Erklärung das Ziel der Theorie ist. Neben Erfolg und Misserfolg der verschiedenen Konkurrenten kommt es zu Pattsituationen und Absprachen sowie Situationen der Differenzierung und Entdifferenzierung, Individualisierung und Kollektivierung, Säkularisierung und Resakralisierung. Befriedigende Erklärungen liefert die Theorie allerdings nur, wenn sie an den jeweiligen historischen Verlauf angepasst wird, weshalb wir im Kapitel 2 die Geschichte des säkular-religiösen Konkurrenzgeschehens in der Schweiz seit ca. 1800 nachzeichnen. Aus der so durch die historischen Randbedingungen konkretisierten Theorie können wir eine Reihe von Hypothesen ableiten, die im Verlauf der Arbeit geprüft werden.

      Ein dritter Teil unserer Antwort besteht aus der These eines Regimewechsels СКАЧАТЬ