Название: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Beiträge zur Pastoralsoziologie (SPI)
isbn: 9783290201128
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Individuelles Handeln
Auf die jeweiligen Konkurrenzsituationen reagieren die Individuen ihrerseits, indem sie sich anpassen. Sie fragen eher religiöse oder eher säkulare Güter nach; sie wählen eher religiöse oder eher säkulare politische Parteien; sie werden Mitglied in religiösen oder säkularen Vereinen usw. Hierbei gehen wir von einer «begrenzten Rationalität» im Sinne Herbert Simons aus. Die Individuen haben beschränkte Informationen und beschränkte Aufmerksamkeits- und Kalkulationsressourcen. Sehr häufig verläuft ihr Verhalten nach Massgabe kulturell vorgegebener Gewohnheiten. Dennoch versuchen sie im Falle von sich verändernden Situationsbedingungen meist, diejenige Kombination von (religiösen und/oder |40| säkularen) Gütern auszuwählen, mit deren Hilfe sie einen möglichst hohen Nutzen erreichen können.103
Externe Einflussfaktoren
Der konkrete Verlauf des Konkurrenzgeschehens wird von verschiedensten externen Faktoren beeinflusst. Es ist, wie wenn Spieler eines Monopoly-Spiels ständig von aussen gestört würden, indem plötzlich neue Regeln eingeführt, manchen Spielern zusätzliche Ressourcen gegeben, anderen Ressourcen entzogen, Pausen erzwungen würden usw. Externe Einflussfaktoren können sehr verschiedene Gestalt annehmen – wir nennen hier nur fünf der wichtigsten Formen.
Der erste zu nennende Einflussfaktor ist das Regime religiös-säkularer Konkurrenz (wir sprechen im Folgenden abgekürzt auch vom Konkurrenzregime). Dieses legt sowohl über die gesetzlichen Wege als auch über die in der Gesellschaft geltenden Normen fest, ob und inwieweit es zu einer intra-religiösen oder religiös-säkularen Konkurrenz kommen kann und nach welchen Regeln solche Konkurrenzen abzulaufen haben. Das Regime religiös-säkularer Konkurrenz kann sowohl das Angebot als auch die Nachfrage regulieren. Beispiele für Regulierung des Angebots sind etwa die Behinderung religiöser Anbieter in der DDR oder die öffentlich-rechtliche Anerkennung mancher religiöser Gemeinschaften in der Schweiz. Beispiele für die Regulierung der Nachfrage sind Normen, die eine religiöse Praxis sozial erwarten (wie dies z. B. für manche französischen Dörfer noch in den 1950er Jahren galt) oder gesetzliche Normen, die eine kirchliche Heirat vorschreiben. Das Regime religiös-säkularer Konkurrenz ist also gewissermassen die für eine bestimmte Zeit in einer Gesellschaft geltende Summe der «Spielregeln». Eine für unsere Theorie wichtige Einsicht ist dabei, dass solche Spielregeln nie unangefochten sind. Sie beruhen auf Machtverteilungen, Grössenverhältnissen von Gruppen usw., sie werden ständig neu ausgehandelt. In manchen Situationen kann es dann zu «Wechseln des Konkurrenzregimes» kommen, d. h., die Veränderungen der Spielregeln sind so gross, dass ein qualitativ neues Spiel entsteht (siehe unten). |41|
In Einklang mit neueren ökonomischen und historischen Theorien legt unsere Theorie einen besonders starken Akzent auf Innovationen.104 Zunächst kann man hier an wissenschaftliche/technische Innovationen denken. Diese verändern durch neue Kontroll- und Verstehensmöglichkeiten die Ressourcen und Opportunitäten der verschiedenen Konkurrenten.105 Die Evolutionstheorie von Charles Darwin etwa veränderte das gesamte religiös-säkulare Konkurrenzfeld, da sie zum ersten Mal eine Möglichkeit eröffnete, die Entstehung des Menschen rein säkular zu erklären.106 Die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelwissenschaften, angestossen etwa von Julius Wellhausen zum Alten Testament oder David Friedrich Strauss zur Gestalt Jesu, haben die religiös-säkulare Konkurrenzlage innerhalb des Protestantismus und langfristig in den westlichen Gesellschaften insgesamt tiefgreifend verändert.107 Während die genannten wissenschaftlichen Innovationen religiöses Wissen direkt betreffen, wirken viele wissenschaftliche Innovationen indirekt, indem sie in zunächst kaum merklicher Weise das Bewusstsein der Menschen modifizieren. Sie beeinflussen, um mit Peter Berger zu sprechen, die allgemeine «Plausibilitätsstruktur» der Menschen.108
Neben wissenschaftlich-technischen sind drittens soziale Innovationen äusserst wichtig. Die Idee der universellen Menschenrechte etwa, die sich (nach wichtigen Entwicklungsstationen im Naturrecht der Aufklärung und der amerikanischen und französischen Revolutionen) ab 1948 durchsetzte, zeigt die Möglichkeit der Begründung des Wertes des Menschen unabhängig von Gott.109 Der Wohlfahrtsstaat, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden und ab den 1950er Jahren in vielen westlichen Ländern extrem ausgebaut wurde, führte zu einem vorher nie gekannten Mass an individueller Sicherheit – eine Sicherheit, die von religiösen Gemeinschaften und Ideologien unabhängig war.110 Die Erfindung der modernen Professionen im 19. Jahrhundert – die die Zünfte ablösten – führte zum Siegeszug des wissenschaftlich legitimierten Expertentums. Die damit neu entstehenden Berufe, insbesondere der Journalisten, Ärzte, Sozialarbeiter und Psychotherapeuten, wurden zu zentralen Konkurrenten der religiösen Führungskräfte, der Kleriker, die sich als umfassende Experten verstanden und sich ihre |42| rseits von Trägern eines schon im Ancien Régime gegebenen Amtes zu Mitgliedern einer Profession verwandeln mussten.111
Eine vierte Form von externen Einflussfaktoren besteht in Grossereignissen. Beispiele sind Seuchen, Kriege, Hungersnöte, meteorologische Ausnahmezustände, Völkerwanderungen u. ä. So ist die massive Welle der Islamophobie in der westlichen Welt nach 2001 aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem grossen Teil auf die Attentate vom 11. September und ihre Folgen zurückzuführen. Ohne diese Attentate wäre die Diskussion um den Islam und die Haltungen gegenüber Angehörigen des Islams vermutlich anders verlaufen.112
Als fünfter und letzter Einflussfaktor sind soziodemografische Veränderungen zu nennen. Veränderungen von Geburtenraten, Verschiebungen in den Zahlen von mono- oder interkonfessionellen Ehen, Männer- oder Frauenüberhänge in Gesellschaften können wichtige Einflüsse auf die religiös-säkulare Konkurrenz aufweisen. So können sich z. B. Mehrheitsverhältnisse zwischen konkurrierenden Parteien aufgrund unterschiedlicher Fertilität innerhalb weniger Generationen umkehren. Auch Veränderungen von Bildungs- und Berufsstatus sowie Einkommensverteilungen sind hier zu nennen.
Effekte des Konkurrenzgeschehens
Unsere Theorie erklärt nun eine ganze Reihe von Phänomenen als Ergebnis der genannten Konkurrenzkämpfe.113 Natürlich ist es möglich, dass eine Situation der Konkurrenz einfach weiter fortbesteht, ohne dass eine der beiden Seiten den Kampf für sich entscheiden kann. In vielen anderen Fällen aber kommt es zu interessanten Veränderungen im Gesamtsystem.
Führt die Entscheidung zum Sieg der einen und zur Niederlage der anderen, entstehen Monopole oder Quasi-Monopole. Als Beispiele sind hier die Durchsetzung des Christentums im 4. Jahrhundert unter Theodosius oder aber die Durchsetzung des Islam mittels der iranischen Revolution von 1978/79 zu nennen. In manchen |43| Fällen kommt es zum Verschwinden der unterlegenen Partei, häufiger jedoch sind Siege und Niederlagen nicht absolut, sondern graduell. Sie schlagen sich in Verschiebungen der Macht, des Einflusses und der Anzahl von Anhängern nieder.114
Eine andere Lösung des Konkurrenzkonfliktes ist die Verringerung oder Vermeidung mittels geschlossener Kompromisse, Absprachen oder Kartelle.115 So einigten sich die miteinander konkurrierenden christlichen Missionsgesellschaften 1910 in Edinburgh darauf, sich nicht gegenseitig die Mitglieder abzuwerben – und begründeten damit die Ökumenische Bewegung.116 So führten in einigen westeuropäischen Staaten (Deutschland, Niederlande, Schweiz) die Konfessionsspaltungen nach einer Phase des Konflikts zu einer geografischen und sozialen Aufteilung der Gesellschaft: Man lebte getrennt nebeneinander.
Aber die Theorie erklärt nicht nur Erfolg oder Misserfolg von Anbietern, sondern auch weitere gesellschaftliche Phänomene wie Differenzierung, Individualisierung oder Säkularisierung.
So können Konkurrenzbeziehungen – in Verbindung mit weiteren Faktoren – sowohl zu Differenzierungs- als auch zu Entdifferenzierungsphänomenen führen.117 Differenzierung meint in unserem Zusammenhang die Tatsache, dass das soziale Leben in funktional unterschiedliche, spezialisierte Teile (Positionen, Rollen, Institutionen) zergliedert СКАЧАТЬ