Название: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Beiträge zur Pastoralsoziologie (SPI)
isbn: 9783290201128
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Ein zweites wichtiges Konkurrenzverhältnis bestand aus der Konfrontation von liberalen und konservativen Richtungen innerhalb der Konfessionen.131 Auf katholischer Seite bekämpften sich liberale und ultramontane, romtreue Katholiken, was auf dem Höhepunkt des Konflikts 1872 zur Entstehung der liberalen Christkatholiken führte. Innerhalb des Protestantismus bekämpften sich während des ganzen 19. Jahrhunderts eine dominante liberale Richtung und eine positive (konservative, bibeltreue) Richtung.132 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts mischte sich auch noch eine religiös-soziale Richtung ein. Zentrale Streitpunkte zwischen Liberalen und Positiven war die Frage, ob bzw. wie sehr man die Bibel historisch-kritisch lesen müsse bzw. inwiefern die Bibel supranaturalistisch interpretiert werden könne. Während Liberale wie etwa Alois Biedermann oder David Friedrich Strauss allen Supranaturalismus ablehnten (z. B. die von Jesus gewirkten Wunder), die verbindlichen Bekenntnisse abschafften und die christliche Botschaft im Wesentlichen ethisch interpretierten, hielten die Positiven an ihrem Glauben an die übernatürliche Wirksamkeit Gottes fest. Da die Positiven im Konkurrenzkampf meist das Nachsehen hatten und inzwischen Religionsfreiheit herrschte, verliessen sie oft die Kirchen, um eigene evangelische Freikirchen zu gründen. In der Romandie entstand so der «Réveil».133 Viele der damals entstandenen Gemeinschaften machen noch heute einen wichtigen Teil des «freikirchlichen Milieus» aus.
Eine dritte Konkurrenzbeziehung bestand zwischen der Sozialdemokratie und dem (christlichen) Establishment. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte zur Verarmung der Arbeiterklasse, was Ende des Jahrhunderts als die «soziale |49| Frage» beschrieben wurde.134 Die Arbeiter begannen sich ihrerseits zu organisieren; 1880 entstand der Schweizerische Gewerkschaftsbund, 1888 wurde die sozialdemokratische Partei gegründet. Innerhalb von Gewerkschaften und Partei war marxistisches, klassenkämpferisches und atheistisches Gedankengut zwar umstritten, setzte sich aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch. Zu einem Höhepunkt gelangte die Auseinandersetzung während des Generalstreiks 1918, der mit Hilfe der Armee zerschlagen wurde. In der Folge wurden allerdings viele Forderungen der Arbeiter schrittweise erfüllt, so dass die Spannungen abgebaut werden konnten.135 Für die Frage des religiösen Feldes der Schweiz war dieses Konkurrenzgeschehen insofern äusserst wichtig, als hier zum ersten Mal eine grosse Volksbewegung explizit marxistisch-atheistisches Gedankengut vertrat und den Kirchen z. T. feindselig gegenübertrat.136 Die religiös-sozialen Bewegungen sowohl im protestantischen wie auch katholischen Lager versuchten, dieses Problem aufzufangen, indem sie die Interessen der Arbeiterklasse aus dezidiert christlicher Sicht vertraten.
Eine vierte Konkurrenzbeziehung entstand zwischen verschiedenen Berufsgruppen, v. a. im 19. und 20. Jahrhundert. Hier ging es um die Frage der legitimen Zuständigkeit bezüglich verschiedener Tätigkeiten. Insbesondere Lehrer/innen, Sozialarbeiter/innen und Krankenpfleger/innen versuchten, sich von der Aufsicht durch die Kleriker zu befreien.137 Schulen waren beispielsweise ursprünglich ausschliesslich kirchlich organisierte, später dann oft noch kirchlich beaufsichtigte Anstalten. Eines der wichtigsten Erziehungsziele des Schulwesens noch im 19. Jahrhundert war es, die Kinder zu rechten Christen zu machen – und das hiess gleichzeitig: zu rechten Bürgerinnen und Bürgern.138 Immer stärker entwickelte das Schul- und Erziehungswesen jedoch von Religion unabhängige Ziele sowie mit den Erziehungswissenschaften ein eigenes Reflexionssystem: die Pädagogik. Um 1900 war dann die allgemeine, unentgeltliche und unter staatlicher Aufsicht stehende (Primar-)Schule durchgesetzt.139 |50|
Eine fünfte und letzte Konkurrenzbeziehung schliesslich entstand zwischen religiösem Handeln und der Erwerbstätigkeit.140 Im 19. Jahrhundert versuchten Unternehmer, die Sonntagsarbeit durchzusetzen, um höhere Gewinne erwirtschaften zu können. Barth141 zitiert einen Bericht der zürcherischen Synodalkommission für Innere Mission, in dem es heisst:
Nicht selten können Lehrknaben oder Dienstboten den Gottesdienst nicht besuchen, weil sie arbeiten oder dann den Platz verlieren müssen. In andern Gegenden sind es die Seidenweberinnen und Weber, welche fleissig dran sind, weil sie «pressierte Wübber» haben und Abzug droht.
Die Kirchen – gemeinsam mit den sozialistischen Kräften – stellten sich diesen Bestrebungen erfolgreich entgegen. Diese Konkurrenz sollte sich untergründig während des ganzen 20. Jahrhunderts weiterziehen.
Nimmt man all diese Konkurrenzkämpfe von 1800 bis in die 1950er Jahre (im «Konkurrenzregime der Industriegesellschaft») gemeinsam in den Blick, so wird deutlich, dass die Religion und die Kirchen in diesem Zeitraum innerlich stark geschwächt wurden. Auf Bundesebene hatte der liberale Staat konfessionelle Neutralität eingeführt, die Kantone hatten viele ehemalige Funktionen der Kirchen an sich gezogen, die Forderungen des katholischen Submilieus waren grossteils erfüllt worden (deshalb war das Milieu auch nicht mehr überlebensnotwendig), verschiedene konkurrenzierende Ideologien (Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus) waren auf den Plan getreten und hatten die religiösen Wahrheiten ihrer ehemaligen Monopolstellung enthoben, neue Berufe hatten den religiösen Spezialisten Aufgaben entrissen.
Dieser Niedergang wurde allerdings nicht oder nur zum Teil als solcher bewusst. Die Schweizer Gesellschaft blieb bis zum Ende der 1950er Jahre der Auffassung, dass sie selbst eine christliche Gesellschaft sei. Das war einerseits schon dadurch zu begründen, dass über 97 % der Bevölkerung einer christlichen Konfession angehörten (1900: 99,4 %, 1950: 97,8 %) und dass diese Mitgliedschaft als nicht individuell wählbar erschien.142 Wie seit Jahrhunderten wurde das Individuum |51| in seine Religion «hineingeboren», als Kind getauft, innerhalb des eigenen konfessionellen Milieus sozialisiert, mit einem Übergangsritus (Konfirmation, Firmung) zum vollwertigen Gesellschafts- und Kirchenmitglied gemacht und nach dem Ritus der eigenen Konfession bestattet. Andererseits hatten die beiden Weltkriege eine wichtige Rolle gespielt. Die Schweiz war wie durch ein Wunder vom Kriegsgeschehen verschont worden. Eine Strategie während dieser Zeit war die «geistige Landesverteidigung» gewesen, d. h. eine Betonung der spezifischen Schweizer Eigenart zunächst gegenüber der deutschen Blut-und-Boden-Ideologie, dann gegenüber dem Kommunismus.143 In beiden Fällen wurde die Schweiz als ein Hort der Demokratie, der Vielsprachigkeit, der Freiheit und nicht zuletzt auch des christlichen Glaubens dargestellt – in Absetzung von den atheistischen Nazis und Kommunisten.144
Die 1950er Jahre lassen uns dieses Paradox von hintergründiger Schwächung und vordergründiger Stärkung der Religion nochmals wie durch ein Vergrösserungsglas betrachten. In den 1950er Jahren traten Phänomene auf, die auf die baldige kulturelle Revolution hinführten und diese vorbereiteten. Hier ist insbesondere der Wirtschaftsboom und der damit zusammenhängende Massenkonsum zu nennen. Eine ständig wachsende Anzahl von neuen Produkten kam auf den Markt, der Staubsauger, die Waschmaschine, der Mixer, der Fernseher, die vollautomatische Heizung usw. Dank des steigenden Einkommens konnten sie von der grossen Masse der Bevölkerung auch gekauft werden.145 Es ist kein Zufall, dass man vom «Volkswagen» und, zumindest anfangs, auch vom «Volkskühlschrank» sprach.146 Eine extreme Wirkung zeitigte das Auto, das eine völlig neuartige Berufs- und Freizeitmobilität ermöglichte.147 Das Magazin «Touring» СКАЧАТЬ