Aufgreifen, begreifen, angreifen. Rudolf Walther
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Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783941895508

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СКАЧАТЬ jeden einzelnen charakteristische Differenzen wegstreicht oder einfach identische Handlungsmotive in sie hineinprojiziert, kommt man zum bündigen Ergebnis, dass alle Kulturen gleich sind. Im Grunde dreht Duerr Elias’ positiv besetzten Zivilisationsbegriff nur um und akzentuiert ihn negativ. Das ist nicht Duerrs Erfindung, sondern hat einen Grund in der Sache selbst.

      Begriffsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass mit demselben Begriff ein und derselbe Prozess positiv oder negativ charakterisiert oder seine Existenz gar bestritten werden kann. Die Doppeldeutigkeit ist konstitutiv für den Begriff »Zivilisation«, und diese Doppeldeutigkeit allein macht ihn unbrauchbar für eine theoretisch konsistente Argumentation. Wenige sozialwissenschaftliche Grundbegriffe sind nach wie vor so mit historischen Mystifikationen verbunden wie der Begriff »Zivilisation«. An der zählebigsten dieser Mystifikationen hat Elias selbst mitgestrickt. Es geht dabei um die Rückprojektion der erst Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden und im Ersten Weltkrieg kulminierenden Kontroverse um die »Ideen von 1789« und die »Ideen von 1914«. 1789 steht dabei für »Zivilisation«, die von deutscher Seite als seichte Vorstufe der Barbarei abgewertet wurde; 1914 steht für »Kultur«, die von Frankreich her als Ausbund von Nationalismus und Militarismus dargestellt wurde. In modifizierter Form hat Elias die Ansätze dieser Kontroverse ins 18. Jahrhundert zurückverlegt: demnach war »Kultur« eine »gegen den Adel gerichtete Schöpfung der politisch ohnmächtigen deutschen Bildungsschicht« und betonte das Nationale, »während sich in ›civilisation‹ die französische höfische Gesellschaft artikuliert habe«, mit einem Vorrang für das Übernationale. Der Zürcher Historiker Jörg Fisch hat die unhaltbare Konstruktion eines wesentlichen Unterschieds zwischen dem französischen und dem deutschen Sprachgebrauch im 18. und 19. Jahrhundert fundiert zurückgewiesen.

      Entgegen solchen Anachronismen ist von einer weitgehend gleichen und positiven Bedeutung der beiden Begriffe auszugehen, die vor dem Ende des 19. Jahrhunderts weder national akzentuiert waren noch eine hierarchische Ordnung unterstellten. In den beiden artikulierte sich aber andererseits ein klarer Überlegenheitsanspruch gegenüber Nicht-Europäern. Gegenbegriffe zu »Kultur« und »Zivilisation« sind »Natur« und »Barbarei«, übergeordnet werden ihnen gelegentlich »Bildung« (etwa bei Humboldt) oder »Moral« (z. B. bei Kant).

      Bevor die beiden Begriffe zu Synonyma wurden, bezeichnete das lateinische Wort »cultura« die Bestellung des Bodens in der Landwirtschaft und erst sekundär die Erziehung des Menschen (»cultura animi«). »Zivilisation« bzw. das lateinische »civilitas« dagegen verlor nie ganz die Verbindung mit dem Stammwort »civis«/Bürger bzw. »civitas«/ Bürgerschaft, Staat. Doch hat sich der Gegensatz zwischen landwirtschaftlich und politisch verstandenem Begriff schnell zersetzt, weil die Wörter »civilitas«, »civilité«, »civility« und – in geringerem Maße – »civiltà« gleichsam entpolitisiert wurden und seit der frühen Neuzeit »Höflichkeit« und »gutes Benehmen« bedeuten.

      Spätestens mit der Aufklärung werden »Kultur« und »Zivilisation« in allen europäischen Sprachen zu Synonyma und in dem Maße geschichtsphilosophisch aufgeladen, wie die theologisch begründeten Weltbilder verblassen oder ganz verschwinden. »Kultur« und »Zivilisation« bilden jetzt das Telos der Geschichte. Als geschichtsphilosophische Zielprojektionen haben sie kaum empirisch bestimmbare Gehalte und dienen vor allem dazu, die Menschen von der Natur und natürlicher Evolution abzuheben und auf die Zukunft auszurichten. In dieser Perspektive geraten »Kultur« und »Zivilisation« zur zweiten Natur der Menschen, zu dem, was diese von der Natur grundsätzlich unterscheidet.

      Mit der geschichtsphilosophischen Ladung handeln sich die beiden Begriffe eine Doppeldeutigkeit ein: »Kultur« und »Zivilisation« werden zwar im allgemeinen als aufsteigende Linie oder Fortschritt konzipiert, doch muss aus plausiblen Gründen und bloßer Erfahrung eingeräumt werden, dass die einzelnen Schritte der Kultivierung und Zivilisierung positive und/oder negative Konsequenzen zeitigen können. Das hängt damit zusammen, dass »Kultur« und »Zivilisation« immer ein Doppeltes gemeint haben, den Prozess der Kultivierung bzw. Zivilisierung und dessen Resultate. Damit entsteht und wächst die Gefahr, die – letztlich – positiven Resultate mit den – unter Umständen – negativen Seiten des Zivilisationsprozesses zu verrechnen, nach der Devise: Passiere, was wolle, für »Kultur« und »Zivilisation« als Resultate bleibt der Saldo immer positiv, denn die Schattenseiten des Prozesses erscheinen nur als historische Reibungsverluste. Unüberbietbar hat das FAZ-Feuilleton (21.12.93) die verlogenen Prätentionen, die mit beiden Begriffen fest verschweißt sind, noch einmal aufgetischt: »Die Umweltproblematik ist zur Kulturfrage unserer Zivilisation, nicht nur der Industrienationen, geworden und damit zum Zentralbegriff einer neuen Kosmopolitik.«

      Vereinzelte Versuche, der Doppeldeutigkeit zu entgehen, indem man etwa den Zivilisationsbegriff für die negativen, den Kulturbegriff für die positiven Seiten des Prozesses wie der Resultate der »Zivilisation« reklamierte, setzen sich nicht durch. Heinrich Pestalozzi identifizierte das Ancien Régime 1797 als »Civilisationsverderben«, »Civilisation« mit »Tierheit« und »Cultur« mit »Menschlichkeit«. Auch der umgekehrte Normierungsversuch scheiterte: »Das Streben der Menschheit ist ihre Civilisation. Jeder Fortschritt, den ein Volk in seiner Civilisation macht, wird als eine teilweise Erfüllung seiner Lebensaufgabe betrachtet und geehrt; und nicht leicht achten wir ein Opfer für zu groß, wenn es der Förderung oder Ausbreitung menschlicher Civilisation dient« (Johann Caspar Bluntschli 1857).

      Solange das Fortschrittsmodell unbestritten blieb, galt auch das »Axiom der Vergleichbarkeit« (Jörg Fisch) und der Messbarkeit von »Kultur« und »Zivilisation« an einem einzigen, von Europa aus definierten Maßstab. Mit der Pluralisierung von Kulturen und Zivilisationen in der wissenschaftlichen Ethnologie, einsetzend mit Edward Burnett Tylor (1871), hat der Maßstab seine Selbstverständlichkeit und seine Geltung eingebüßt. Kulturen und Zivilisationen sind heute nicht mehr länger mit Hinweis auf den buchhalterisch bereinigten »Stand« von »Kultur« und »Zivilisation« einzuordnen, sondern nur – auf der Basis der Anerkennung universalistischer ethischer und rechtlicher Normen – untereinander zu vergleichen. Die Kriterien dafür sind in den doppeldeutigen und doppelbödigen Begriffen »Kultur« und »Zivilisation« im Singular gerade nicht zu fassen, sondern nur ethisch-politisch bzw. rechtlich; als normierende und normative Begriffe sind sie deshalb obsolet geworden.

      Dem versucht man wieder einmal zu entgehen, indem man den geschichtsphilosophisch positiv aufgeladenen Begriff »Zivilisation« negativ umpolt. Das Muster dafür liefert der seit dem Fin de siècle geläufige, abendländisch oder untergangssüchtig oder beides zugleich orchestrierte Kultur- und Zivilisationspessimismus – wilhelminischer Stammtisch-Nietzsche.

      Zygmunt Bauman diagnostizierte das »Jahrhundert der Lager« als Kulminationspunkt und legitimes Produkt »unserer modernen Zivilisation«. Günter Kunert räsonierte über »die Abschaffung der Kultur durch die Zivilisation« (DIE ZEIT 4.2.1994), als ob er das Abendland mit der Munition aus dem gymnasialen Gesinnungsaufsatz der 50er Jahre verteidigen müsste: »Wir haben doch mehr Geräte ... als je zuvor ... Man ist nicht mehr neugierig ... Obwohl wir ... mehr Freizeit haben, fehlt uns, um diese zu nutzen, die Muße ... Wir sind längst von Ungeduld infiziert.« Wer ist »wir«?

      Bauman und Kunert sehen den zivilisatorischen Zug bremsen- und führungslos auf einer einzigen abschüssigen Strecke davonrasen und vergessen darob die Vielfalt des Geländes, durch das sich der Zug seit der Aufklärung bewegt. An der bisherigen Geschichte gibt es gar nichts zu beschönigen, aber mit einem weichenlosen, schnurgeraden Schienenweg hat sie nichts zu tun – in ihren Abgründen wie in ihren besseren Momenten. »Die Kritik der instrumentellen Vernunft« (Max Horkheimer) und »Die Dialektik der Aufklärung« (Max Horkheimer/Th. W. Adorno) haben das unvermeidliche Pendeln aller bisherigen zivilisatorischen Bewegungen zwischen Kultur und Barbarei an den gesellschaftlichen Realitäten dargelegt; ein Pendeln, das »nicht auf einem Zuviel, sondern einem Zuwenig an Aufklärung« beruht, und »die Verstümmelungen, welche der Menschheit von der gegenwärtigen partikularistischen Rationalität angetan werden«, ebenso produziert wie Widerständiges und Kritik: »Residuen von Freiheit« und »Tendenzen zur realen Humanität«.

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