Aufgreifen, begreifen, angreifen. Rudolf Walther
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Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783941895508

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СКАЧАТЬ (nicht von allen) als Wissenschaft verstandenen Geopolitik zu bestimmen. Bei Kjellén wird der Staat von seiner elementarsten Voraussetzung her gefasst, von seiner Territorialität, aus der der Rest abgeleitet wird. Für ihn wiegen denn auch Gebietsverluste schwerer als der Verlust von Menschenleben.

      Nirgends fand Geopolitik so viel Beachtung wie bei deutschen Konservativen und Nationalsozialisten. Beiden war sie ein Hebel zur Revision der Pariser Friedensverträge von 1919/20. Die schillerndste Figur war Karl Haushofer (1869-1946), Mitglied der NSDAP, mit einer Frau jüdischer Herkunft verheiratet, befreundet mit Rudolf Hess und intimer Feind von Goebbels, der ihn nach 1939 kaltstellte. Auch wenn man den direkten Einfluss der Geopolitiker auf die Herrschaft der Nazis nicht überschätzen darf, so hat sich doch das Unternehmen, das sich zwischen 1924 und 1944 um die »Zeitschrift für Geopolitik« gruppierte und den Nazis die Stichwörter lieferte, nachdrücklich diskreditiert: Vom Kampf gegen Weimar über den Antisemitismus bis zum »Drang nach dem Osten« ist hier »geopolitisch« alles zur Propaganda aufbereitet worden. Das kritisch gemeinte Wort vom deutschen »Drang nach dem Osten« prägte der Pole Julian Klaczko 1849; Geopolitiker und Nazis drehten es um und machten es zur Fanfare. Daran ändert nichts, dass Haushofer selbst gegen den Krieg mit der Sowjetunion war. »Das Gesetz der wachsenden Räume« formulierte Fritz Hesse schon 1924. 1933 deklarierte sich die Geopolitik freiwillig als »nationale Staatswissenschaft«, ganz nach Haushofers Motto: »Die Geopolitik will Rüstzeug zum politischen Handeln liefern und Wegweiser im politischen Leben sein.« Umso peinlicher berührt es, wenn neuerdings akademische Gesellenarbeiten versuchen, Geopolitik und Geopolitiker von ihrer Kollaboration mit den Nazis reinzuwaschen. Haushofer hat es abgelehnt, der Forderung seines Kollegen Richard Hennig nachzukommen, Geopolitik eindeutig von Rassenpolitik abzugrenzen. Er räumte nur den Vorrang des »Rechts des Bodens« ein und sprach von »Blut und Boden als Widerlagern« des »gewaltigen Bogens« (4.6.1935), den die Politik nach 1933 geschlagen habe. Die 1994 erschienene Dissertation Frank Ebelings sieht dagegen in der Geopolitik einen Beitrag zur »Stabilisierung ... der Weimarer Republik«. Er schreibt Haushofer »skeptischen Realismus« zu und verniedlicht dessen Unterstützung für Hitlers Außenpolitik als »Ausdruck des Willens einer Idee, über die nationalen Grenzen hinaus ordnungsgebend tätig zu werden.« Mit dem »Denken der Welt« und »Größe« (Michel Korinman) hat die abgeschmackte Scharlatanerie, die zwischen 1917 und 1945 in Deutschland als Geopolitik auftrat, nichts zu tun. Deren trostlose Geschichte kann es nicht gewesen sein, die die Geopolitik in Frankreich, Italien und in der BRD wiederbelebt hat.

      Die Gründe dafür liegen in den drei Ländern unterschiedlich, wenn es auch Gemeinsamkeiten gibt und Frankreich den Vorreiter spielt. Man kann das in jeder großen Pariser Buchhandlung überprüfen. Dort füllt die Abteilung »Géopolitique« sechs Laufmeter, gefolgt von einem Meter »Polémologie« (Kriegeskunde), an die sich die Abteilung »Menschenrechte/Humanitäres« mit kaum einem halben Meter Bücher anschließt. Geopolitik hat Konjunktur, und ein »Dictionnaire de géopolitique« ordnet alle Gemeinplätze handlich auf über 1000 Seiten. Seit neuestem ist Geopolitik in Paris ein universitärer Studiengang. Dass es dazu kam, ist das Verdienst des Geographen Yves Lacoste. Der erklärt sich den Wiederaufstieg der Pseudowissenschaft Geopolitik disziplingerecht schlicht: Als es 1979 zum Krieg zwischen den drei kommunistischen Staaten Vietnam, Kambodscha und China kam, fehlte den Journalisten eine Erklärung, denn das Ost-West-Raster versagte. Die Journalisten schauten auf die Karte, sahen das Mekong-Delta und verschrieben sich »geopolitischen Erklärungen« – eine journalistische Improvisation steht also am Beginn der Renaissance der Geopolitik in Frankreich.

      Diese Renaissance fiel zusammen mit dem Auftreten der »Neuen Philosophie« in Frankreich. Ebenso theatralisch wie hypermoralisch grundiert, verabschiedeten sich damals Teile der Pariser 68er-Intelligenz von ihrem konfusen Bistro-Maoismus. Lacoste selbst gehörte nicht zu dieser Generation, aber zu einer Fraktion von »Tiers-Mondistes« (Dritte-Welt-Fans), denen die Verbrechen Pol Pots und anderer Diktatoren ihr Weltbild zerstörten. Denjenigen, denen früher das Herz für den Klassenkampf im Weltmaßstab und für »die Verdammten dieser Erde« schlug, erschien jetzt über Nacht »die Geographie als Handlungsmittel« (moyen d’action). Als »militante Geographen« wandten sie sich zunächst gegen »die Geographie der Professoren« (Yves Lacoste). Später versuchten sie Einfluss auszuüben auf die »Entscheider« in Wirtschaft, Politik und Militär. Historische Analogien sollten das Prestige steigern: Herodot sei, so Lacoste, nicht nur Historiker gewesen, sondern habe mit seinem Wissen über Persien die Raubzüge Alexanders des Großen erst ermöglicht. Ob bei der Investitionsberatung multinationaler Konzerne, bei staatlichen Entwicklungsprojekten oder als »Ratgeber von Staatschefs« – für alles stellt »die Geographie« nach Lacoste »ein ausgezeichnetes Herrschaftsmittel« bereit (»Den Boden denken«, Autrement, Nr. 152, 1995). Der Formel à la mode entsprechend, wird da zwar »bodennah« platt geredet, aber wenig gedacht – schon gar nichts zu Ende. In der Zeitschrift »Hérodote«, die den Untertitel »Revue de géographie et géopolitique« erst seit 1982 trägt, hieß die Zielgruppe 1976 noch etwas anders: »für die Unterdrückten«. Was jedoch den Gegenstand und die Methode der aufgewärmten Geopolitik ausmacht, so ist alles beim Alten geblieben: Kein einziger Beitrag in 20 Jahren, der die Grundlagen klärte. Vielmehr tischt das Organ unentwegt Ladenhüter auf, die in ihrer Schlichtheit auch von Haushofer stammen könnten. »Die geopolitische Methode« bezieht »ihre Argumente aus der geographischen Logik, und als Arbeitsgrundlage dienen ihr Karten« (Yves Lacoste 1990). Allenfalls kann man von einem Rückzugsmanöver sprechen, wenn Lacoste einräumt, dass »es ja nicht eine Geopolitik, sondern verschiedene Geopolitiken« gibt – und zwar so viele wie Nationalstaaten. Das war die Einbruchstelle für den mit Ressentiments gegen Deutsche unterlegten Salon-Nationalismus, in den Lacoste und die gesamte Zeitschrift nach 1989 umkippten. Die Zeitschrift bietet heute nur noch nationale Propaganda, unter dem Vorwand, man dürfe die »Idee der Nation« nicht der »nationalistischen extremen Rechten« (Hérodote, Nr. 72/73, 1994) überlassen. Fazit: Zu den »geopolitischen« kamen die post-Jetons hinzu (»Westen«, »Zivilisation«, »Identität« und »kollektives Bewußtsein«). Geopolitik aber blieb, was sie immer war: Leutnants-Latein in Form militärischer Geländekunde, die bestimmt wird durch logistische, taktische und strategische Plausibilitätserwägungen oder Leitartikel-Prosa, die ihre nationale Borniertheit hinter begrifflichen Nebeln verbirgt. Nur lächerlich wirkt, wenn derlei von der deutschen Anhängerschaft als »Hérodote-Schule« beweihräuchert wird.

      Der italienischen Linie der Geopolitik fehlt jede intellektuelle Eigenständigkeit. Sie schwimmt mit ihrer Zeitschrift »Limes« im Pariser Schlepptau. »Limes« ist hemmungsloser – da darf man auch das »Italien ohne Helden« oder den »Genozid an der Nation« bejammern. Ein Teil der Autoren gehörte einst zur kommunistischen Linken. Nachdem diese aus der Mode kam, bleiben vielen nur »unsere wahren nationalen Interessen« (Federico Rampini) und Nationalismus übrig. Mit Carlo Jean hat die Zeitschrift ein Mitglied im »wissenschaftlichen« Beirat, das im Stil wilhelminischer Generäle über die »nationale Idee der Sicherheit« und »gerechte Kriege« schwadroniert. Andere machen die »Entnationalisierung« der Linken für den Zustand der staatlichen Institutionen verantwortlich, nicht etwa Parteiensumpf, Mafia und Korruption. »Die Mäßigung«, die sich »Limes« auferlegt, nachdem »wir immer zu groß oder zu klein sein wollten«, endet bei der blutsrechtlichen Eingemeindung aller emigrierten Italiener: »Dann kommen wir auf etwa 100 Millionen«, d. h. auf »ein geopolitisches Vorkommen, das darauf wartet, ausgebeutet zu werden« (Limes 4/1994). Aus dem Editorial der Zeitschrift »Geopolitica« von 1939 tönte die »Mäßigung« ähnlich: »Die Grenze Italiens liegt in den Karpaten.« Geopolitik ist in Italien eine Schöpfung der faschistischen Regierung, was die heutigen Adepten nicht zu stören scheint. Man redet einfach von »der Gewohnheit unserer Kultur, sich bei der Analyse verschiedenster Bereiche des räumlichen oder territorialen Schlüssels« zu bedienen. Im publizistischen Handgemenge dominieren Seichtigkeiten und Vereinfachungen: Deutschland sei »besessen von einem Gefühl der Unsicherheit ...: dem Fehlen eines Selbstbewusstsein stiftenden Kollektivgedächtnisses und einer sicher definierten geographischen Lage. Daher sein unruhiger Charakter, die ständige Versuchung, auf geopolitische Wanderschaft zu gehen, immer auf der Suche nach der eigenen Identität« (Angelo Bolaffi) – wie gehabt, Verdun und Stalingrad als Folge der Leidenschaft für »geopolitische Wanderschaft«.

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