Nur der See sah zu. Herbert Dutzler
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Название: Nur der See sah zu

Автор: Herbert Dutzler

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783709939499

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СКАЧАТЬ will ich auf den Blick hinweisen, auf dieses prachtvolle Panorama, will etwas über den Achensee mit seinem fast karibisch türkisblauen Farbspiel erzählen, der zehn Kilometer lang und bis zu 133 Meter tief ist, Trinkwasserqualität hat und exzellente Windverhältnisse für Surfer und Segler bietet, aber da sehe ich unten am Hang einen, der sich in den Bäumen verhakt hat. Kein Freestyle-Wanderer, der abseits des Weges gestolpert ist und sich jetzt Halt suchend in eine Birke verkrallt hat, sondern ein – aufgrund der Gliedmaßenverrenkung – sichtlich Toter, der wohl den Hang hinuntergekullert wurde und versehentlich hängen blieb. Es ist der Rothaarige im Flanellhemd, dem es nicht schnell genug gehen konnte. Jetzt nur keine Panik in der Gruppe. Meine Schäfchen dürfen nicht hysterisch werden. Sonst laufen noch alle in Panik zurück, womöglich stürzen die Älteren und brechen sich die Hüfte. Nein, ich muss ruhig und besonnen vorgehen. Das ist das A und O einer guten Wanderführung.

      Bevor einer den Toten bemerkt, zum Beispiel der Bommelmützenmann mit der Kamera, zeige ich rasch hangaufwärts, wo es eigentlich nichts weiter zu sehen gibt. „Die Flora und Fauna der Achenseeregion“, jubiliere ich gekünstelt, „Naturparadies der Alpen, unvergleichliches Refugium für Tiere und Pflanzen, Rückzugsgebiet für höchst bedrohte Arten, wie Sie sie dort sehen.“

      „Ich sehe nichts“, ruft die Kniehosenseniorin mit dem schlechten Gehör.

      „Doch, da!“, insistiere ich und zeige wahllos ins Grün. „Die höchst seltene Almrose, die nur noch im Karwendelgebirge zu finden ist.“

      „Ich bin Biologin, meine Guteste, und da ist nichts Seltenes zu sehen“, widerspricht die Alte hartnäckig. „Und das, worauf Sie da zeigen, ist ein Baum, und zwar der hier für die Region ganz typische Bergahorn.“

      Ich schaue die anderen schulterzuckend an. Ach, diese senilen Alten, was die immer so reden, will mein Schulterzucken sagen.

      Blöderweise interpretiert das auch die Alte korrekt. „Sie machen das hier nicht oft, oder?“, fragt sie frech.

      Sie hat ja recht. Aber taktlos ist es trotzdem.

      Na, wenigstens hat keiner die Leiche bemerkt.

      Schmollend rufe ich: „Und wir gehen weiter!“, und stapfe los.

      So ungefähr nach der halben Strecke kommt man an ein Plateau und eine Kreuzung. Ich schaue im Faltblatt nach. Zwei Wege kann man gehen, der eine ist breit und bequem, der andere steil und beschwerlich, manchmal auch gefährlich. Das ist der Dien-Mut-Weg.

      War ja irgendwie klar.

      Ich hole tief Luft und sehe mich in der Gruppe um. Vom Feeling her würde ich sagen, wir sind auf die Hälfte geschrumpft. Ich vermisse neben dem Numismatiker und dem karierten Flanellhemd den Schlacks mit den Golferhosen und das nette Ehepaar aus irgendwo hinter Wien. Na, man kennt das ja, bei Führungen kommen immer mal wieder welche abhanden, weil ihnen die Puste ausgeht oder weil sie tot im Baum hängen oder weil die Führung jetzt nicht so wahnsinnig prickelnd ist. Man könnte auch einfach das Faltblatt des Achensee-Tourismusbüros mitnehmen und unterwegs selber nachlesen, was man sieht, da hätte man mindestens ebenso viel davon und müsste nicht mit völlig Fremden Schritt halten, aber das sage ich natürlich nicht. Fremdenführer und -führerinnen wollen ja schließlich auch leben und ihr Auskommen finden. Wo immer die Abgängigen geblieben sein mögen, es ist mir egal – alle haben im Voraus auf dem Parkplatz bezahlt, und Rückerstattungen gibt es nicht.

      „Ich frage mich, wo mein Herrmann bleibt“, ruft die Numismatikergattin. „Vielleicht sollte ich mal nach ihm sehen.“

      „Nein, bitte, die Gruppe muss zusammenbleiben.“ Ich packe sie fest am Ellbogen und hoffe, es gibt keine blauen Flecke. „Ihr Mann wird uns schon einholen. Und der Weg ist ja exzellent ausgeschildert. Sehen Sie, dort.“

      Ich zeige auf das Schild. BESINNUNGSWEG.

      Zögernd nickt sie.

      Um sie abzulenken, sage ich: „Durchzählen!“

      „Wie bitte?“, ruft die Greisin.

      „Durchzählen!“, wiederhole ich lauter.

      „Das ist doch albern“, erklärt ein Anfangdreißiger in stylischer, atmungsaktiver Designer-Sportswear.

      „Durchzählen!“ Ich kann auch streng.

      „Eins“, entfährt es dem Anfangdreißiger verschreckt.

      Wir kommen auf vierzehn. Jetzt bin ich mir sicher, dass wir unterwegs sechs verloren haben, denn bezahlt haben zwanzig.

      „Und wir gehen weiter!“, rufe ich und treibe meine Herde voran.

      Nächste Station: Wir sind alle in Gottes Hand. Stimmt, denke ich, während die anderen wie wild das Panorama fotografieren. Die Hand ist rot angerostet, blutrot. Das bekümmert aber sichtlich keinen. Oh, diese Ahnungslosen.

      Carpe diem, kann ich da nur sagen, nutze den Tag. Man sollte jeden Morgen so aufstehen, als wäre es der letzte. Schneller, als einem lieb ist, tritt dieser Fall nämlich tatsächlich ein.

      Im Faltblatt steht für diese Station: Er lässt die Sonne aufgehen über Gute und Böse. Ich kenne ja jetzt die einzelnen Mitwanderer nicht persönlich, aber ich tippe mal, von denen sind nicht alle gut. Ich bin es beispielsweise nicht. Dass ich hier und heute die Führerin abgebe, ist allein darin begründet, dass ich beim Streichholzziehen das kürzeste Streichholz gezogen habe. Aber das lasse ich meine Gruppe nicht merken. Ich bin ja Profi. Ich spiele quasi oscarreif die engagierte Besinnungswegführerin.

      „Haben alle die sensationelle Aussicht fotografiert?“, rufe ich und zähle durch. Dreizehn. Ja, definitiv, es fehlt schon wieder einer. Ich tue natürlich so, als wäre nichts. Die Seniorin guckt misstrauisch, sieht mich an und schüttelt den Kopf. Vermutlich denkt sie, die Leute hätten sich klammheimlich abgeseilt, weil sie meine Führung so furchtbar finden. Die kann mich mal, die Alte. Die wird schon noch merken, dass ich mit dem Verschwinden dieser Leute nichts zu tun habe.

      Forsch rufe ich: „Und wir gehen weiter!“

      Beim Gekreuzigten bleiben wir wieder kurz stehen. Zwei junge Frauen haben Blumen mitgebracht und stecken sie der Holzfigur jetzt in die ausgestreckte rechte Hand. Eine nette Geste.

      Der Gekreuzigte sieht anders aus, als man ihn sonst so kennt, ist glatt rasiert und trägt ein Goldkäppi. Er erinnert mich irgendwie an einen Ägypter aus dem Hollywoodkolossalstreifen Die zehn Gebote. Der Mitwanderer im Pastellpoloshirt hat entfernte Ähnlichkeit mit dem Hauptdarsteller Charlton Heston. Ich lächele ihm erneut kokett zu. Man darf ja bei der Arbeit auch mal Mensch sein. Immerhin er ist noch übrig. Der Bommelmützenmann mit der Kamera ist jetzt nämlich auch weg. Da waren’s nur noch zwölf. Das fällt auch der Lehrerin auf.

      „Fehlt da nicht einer?“, ruft sie laut. „Der mit der Kamera?“

      Ich nicke lässig. „Ja, er wollte sicher noch ungestört ein paar Aufnahmen vom Panorama machen. An der Hütte wird er uns schon einholen.“

      „Bestimmt wartet er auf meinen Herrmann. Einer muss es ja tun“, sagt die Numismatikergattin, СКАЧАТЬ