Nur der See sah zu. Herbert Dutzler
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Название: Nur der See sah zu

Автор: Herbert Dutzler

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783709939499

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СКАЧАТЬ wie im Nachhinein gesagt werden muss.

      „Notburga …“, fahre ich fort und werde unterbrochen.

      „Geht das nicht lauter?“, ruft die Kniehosenseniorin. „Man versteht ja gar nichts!“

      Ich zähle innerlich auf zehn.

      „Notburga wurde als einfache mittelalterliche Bauernmagd zu einer Heiligen, zu der vor allem Dienstmägde und Knechte andachtsvoll aufblickten. Sie war eine von ihnen. Daher übrigens auch der Name dieses Weges, dienmuot, das ist mittelhochdeutsch und steht für Mut zum Dienen.“

      „Mut zu was?“, ruft die schwerhörige Seniorin. „Jetzt sprechen Sie doch mal lauter!“

      Zugegeben, der Verkehr rauscht relativ laut am Parkplatz unten vorbei, aber so leise rede ich nun auch wieder nicht. Soll sie sich halt ein Hörgerät zulegen!

      Dennoch drehe ich etwas auf. „Notburgas letzter Wunsch war es, dass man ihren Leichnam auf einen Karren mit zwei Ochsen legen und sie dort begraben möge, wo der Karren stehen bleibt. Die Ochsen zogen den Karren bis vor die Kirche in Eben am Achensee, also dort hinten.“ Ich strecke den Arm ungefähr in die Richtung, wo ich Eben vermute, und alle Köpfe folgen ihm.

      Eine hagere Frau, sicher Lehrerin, widerspricht. „Laut meiner Karte liegt Eben in der anderen Richtung.“

      Ich werde muffig. „Wollen Sie die Führung übernehmen?“, frage ich spitz. „Dann los!“

      Sie schüttelt den Kopf.

      „Was? Geht’s jetzt los?“, ruft die Seniorin. „Wird ja auch Zeit.“

      Das kann ja noch heiter werden, denke ich, sammle mich – OM! – und erläutere: „Unser Besinnungsweg erstreckt sich über circa zwei Kilometer. Wir werden an mehreren Stationen vorbeikommen, die zur Besinnung einladen. Und am Schluss kehren wir dann alle in der Rodlhütte ein. Sie sind auf einen kleinen Imbiss eingeladen. Und wir gehen weiter!“

      Ich zeige auf das enge Holztor mit der Aufschrift Geh durch das enge Tor, es führt zum Leben. Für manche von uns trifft das nicht zu, ganz im Gegenteil, aber das wissen die Betroffenen noch nicht. Alle schreiten fröhlich voran.

      Das Tor – bezeichnenderweise gestiftet von Sport Wöll – ist nicht nur niedrig, sondern auch schmal. Der lange Schlacks mit den karierten Golferhosen muss sich fast in der Mitte knicken, um hindurchzugelangen, das adipöse Ehepaar aus Amerika passt beim besten Willen nicht hindurch. Die Frau versucht es noch, bleibt aber stecken, und ihr Mann und ich müssen sie an den Armen rückwärts herausziehen. „Sie können über den Parkplatz und dann außen herum gehen“, sage ich und deute. „Wir machen etwas langsamer, da holen Sie uns bequem ein.“ Die beiden gucken nicht glücklich, und wären wir in Amerika, würden sie jetzt schon in Gedanken die Klageschrift vorbereiten von wegen Diskriminierung übergewichtiger Wanderer. Leichter kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Dicker auf den Besinnungsweg.

      Die beiden Amerikaner kehren in Richtung Parkplatz um. Wir sehen sie nicht wieder und gehen alle davon aus, dass sie beleidigt sind und jetzt lieber allein am See entlangspazieren, wo man so breit sein kann, wie man will. Ein Irrtum, aber das weiß ebenfalls noch keiner.

      „Und wir gehen weiter!“, rufe ich und führe meine Herde an.

      An der Futterhütte sammle ich meine Schäfchen wieder um mich.

      „Wenn im kalten Winter das Reh, die Gämse und der Hirsch kein Gräslein mehr finden, kein Salz, kein Heu und kein Leck, müssen sie verhungern“, lese ich von meinem Faltblatt ab. „Diese Besinnungsstation will uns erinnern, dass wir den Tieren und den Menschen zu essen geben sollen. Für das Wild Futter, für die Menschen Geld. Darum die Münzschale da oben. Als Symbol dafür, dass wir unsere Börse denen öffnen sollen, die weniger haben. Und wir gehen weiter.“

      Ein älterer Herr ruft: „Ich bin Numismatiker. Ich schaue mir die Münzen kurz einmal an … rein interessehalber.“

      „Aber Herrmann!“, schimpft seine Frau.

      „Geh halt mit den anderen, ich komm schon nach“, pampt er und stapft zu der Holzschale hoch, in die gutherzige Wanderer einen symbolischen Obolus deponieren.

      Ich treibe meine Schäfchen voran. Hinter mir höre ich Münzen klappern. Schaut der sich wirklich nur die Münzen an, oder steckt er sich welche ein?, überlege ich, drehe mich aber nicht um. Wird schon alles seine Richtigkeit haben. Jeder kriegt, was er verdient. Am Ende …

      „Also, Entschuldigung, mir geht das zu langsam“, ruft ein Rotblonder im karierten Flanellhemd. „Ich geh schon mal vor.“ Er läuft los.

      „Gern, nur zu“, rufe ich seinem entschwindenden Rücken hinterher. Er wird schon sehen, was er davon hat. Dann wende ich mich lächelnd an meine Wandergruppler und sage: „Und wir gehen weiter!“

      Gibt’s im Land koa Liebe mehr, stirbt die Quell, der Brunnen leer. Wir stehen vor dem Brunnen, und er ist leer – noch so ein Umstand, der der Gruppe hätte zu denken geben müssen. Tut er aber nicht. Meine Schäfchen stehen nur da und machen ah und oh.

      Ich keuche derweil. Ich bin ja nicht von hier, komme aus dem norddeutschen Flachland, wohne erst seit einer Woche im Posthotel drüben in Achenkirch und habe in dieser Zeit nichts anderes getan, als viermal am Tag zu essen – Frühstück, Lunch, Kuchentafel, Abendessen. Meine Hose spannt, und die Lungen pfeifen. Ich hätte mehr sporteln sollen, aber diese Erkenntnis kommt jetzt zu spät. Hier war eigentlich gar kein Halt vorgesehen, aber ich muss erst mal zu Atem kommen. Um die Gruppe zu beschäftigen, zitiere ich ein Besinnungsgedicht. Auch aus dem Faltblatt. „Warum ist der Brunnen leer? Warum fließt kein Wasser mehr? Wenn jeder nur noch an sich selber denkt, dem andern keine Liebe schenkt, versiegt auf Erden jede Quelle und in den Menschen alles Helle.“ Ich schaue auf und improvisiere auf Teufel komm raus. „Die heilige Notburga kann uns da ein Vorbild sein. Sie hat ihre Liebe immer großzügig anderen zukommen lassen. Deswegen wurde sie ja auch heiliggesprochen, die Gute. In diesem Jahr feiern wir übrigens 700 Jahre Notburga mit zahlreichen Veranstaltungen und Feierlichkeiten. Der Höhepunkt ist im September, die Notburga-Prozession.“

      Ich frage mich, wer von meinen Schäfchen das noch erleben wird … „Was wäre die Welt ohne Liebe. Wir sollten alle mehr Liebe verströmen“, flöte ich. Plattitüden kann ich gut.

      Apropos Liebe … Ich zwinkere dem gut aussehenden Mann im pastellfarbenen Polohemd zu. Dabei sind Pastelltöne bei Männern eigentlich ein Deal Breaker für mich, aber die Auswahl in der Gruppe ist nicht berückend.

      Mehr Liebe für die Welt, da sind sich alle einig. Die Gruppenköpfe nicken synchron, der Bommelmützenmann schießt mit seiner Hochleistungskamera ein Foto vom leeren Brunnen. Dann scharren aber schon alle ungeduldig mit den Hufen. Das Besinnen ist aus der Mode gekommen, und oben auf der Hütte wartet der Imbiss auf uns.

      „Wo Herrmann nur bleibt?“, fragt die Frau des Numismatikers und schaut den Weg zurück, den wir gekommen sind.

      Weit und breit kein Herrmann.

      „Der holt uns schon noch ein“, beruhige ich sie. „Und wir gehen weiter.“

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