Nachdenken über Corona. Группа авторов
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СКАЧАТЬ im politischen Kontext betrachten. Entsprechend sollte es uns in der Corona-Krise primär darum gehen, Verlässlichkeit herzustellen, anstatt die passive und emotional aufgeladene Haltung des Vertrauens anzustreben.

      Die Struktur der demokratischen Entscheidungsfindung stellt dabei bereits Mechanismen bereit, die auf die Sicherung einer solchen Verlässlichkeit abzielen. So wird etwa das Handeln von politischen Entscheidungsträgern zu einem wesentlichen Teil dadurch verlässlich gemacht, dass sie in regelmäßigen Abständen abgewählt werden können. Ein anderer gut etablierter Mechanismus, der uns dabei hilft, uns auf unsere Politikerinnen, aber auch auf die Arbeit von Wissenschaftlern zu verlassen, besteht in der kritischen Aufmerksamkeit, die beiden Personengruppen von Seiten erfahrener und gut informierter Journalistinnen zukommt. Diese Kontrollfunktion der Medien ist zentral für unser demokratisches Miteinander, hat aber nicht viel mit Vertrauen zu tun, das sich im Gegensatz zum Sich-Verlassen nicht gut mit Überwachung und skeptischen Nachfragen verträgt.

      Neben diesen zwei klassischen Weisen, Verlässlichkeit herzustellen, steht uns eine ganze Reihe anderer, zum Teil flexibel an die jeweilige Situation anzupassender Maßnahmen zur Verfügung. Sollte sich etwa herausstellen, dass Biotech-Unternehmen nicht sorgfältig genug bei der Prüfung potenzieller Impfstoffe vorgehen, können wir die Auflagen für eine Zulassung erhöhen. Sollte sich herausstellen, dass das Gegenteil der Fall ist und wir ihnen mehr Flexibilität lassen müssen, können bestehende Regulierungen wieder zurückgefahren werden. Über das Für und Wider solcher Maßnahmen sollte sachlich diskutiert werden. Die Entscheidungen, die letztlich gefällt werden, haben dabei selten einen definitiven Charakter und müssen sich immer neu an den faktischen Gegebenheiten orientieren. Das ist gerade das Schöne an der Orientierung an Verlässlichkeit: Wir sind nicht gezwungen, uns ein für alle Mal und pauschal darauf festzulegen, dass jemand Böses im Schilde führt, und können stattdessen versuchen, eine unsichere Situation aktiv mitzugestalten.

      Es ist nicht zuletzt auch die Aufgabe jedes einzelnen Bürgers, im Rahmen seiner Möglichkeiten für Verlässlichkeit zu sorgen. In der Pandemie kann das geschehen, indem man sich etwa die Mühe macht, sich im Hinblick auf konkrete Fragestellungen, die mit Corona zu tun haben, möglichst gut zu informieren. In einem weiteren Schritt kann man die auf diese Weise erworbene Kompetenz auf der Ebene der Kommunalpolitik, in öffentlichen Debatten oder auch nur bei Diskussionen im Freundes- und Familienkreis zum Einsatz bringen, um auf konstruktive Weise darüber zu streiten, wie wir als demokratische Gemeinschaft mit der Krise umgehen sollten. Politikerinnen, die mit mündigen und informierten Bürgern rechnen müssen, werden typischerweise verlässlicher sein als Entscheidungsträger, die von ›Wutbürgern‹ umgeben sind. Tatsächlich wird die hier angedeutete Forderung vielerorts bereits erfüllt: Millionen von Bürgerinnen nehmen angesichts der Krise im Großen wie im Kleinen die Haltung informierter und kritischer Diskussionsteilnehmer ein, ohne sich von den emotionalisierten Appellen selbsternannter Querdenker beeindrucken zu lassen. Sie arbeiten auf diese Weise an der Verlässlichkeit der für die Bewältigung der Krise relevanten Akteure, und es ist auch ihnen zu verdanken, dass bislang die schlimmstmöglichen Corona-Szenarien nicht eingetreten sind.

      Diejenigen Bürger, die ich im Blick habe, gehen nicht einfach davon aus, dass die Entscheidungen der Regierung oder die Ergebnisse der Wissenschaft über jeden Zweifel erhaben sind. Sie sind nicht naiv und sie können politischen Maßnahmen mit Gründen skeptisch gegenüberstehen. Sie sehen aber, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass politische Entscheidungsträgerinnen mit einer überwältigenden Mehrheit der Wissenschaftler und Medienvertreter im Bunde sind, um die Krise für eigene Zwecke zu nutzen. Es ist schwer plausibel zu machen, welches Interesse hinter einer solchen Verschwörung stehen sollte, ganz abgesehen von der logistischen Herausforderung, die damit verbunden wäre. Solche nüchternen Abwägungen sind charakteristisch für Personen, die sich in erster Linie auf andere verlassen möchten. Ob Vertrauenswürdigkeit als politische Kategorie ganz durch Verlässlichkeit ersetzt werden sollte, mag an dieser Stelle offenbleiben. Was die Corona-Krise betrifft, sind wir jedenfalls gut beraten, sie nicht voreilig als eine Geschichte des enttäuschten Vertrauens aufzufassen.

      Luise K. Müller

      Das Samariterprinzip

      Warum der Staat in der Not zwingen darf

      »Nicht ohne uns!« Diesen Slogan skandieren Demonstranten der sogenannten Hygiene- und Querdenker-Demos im Namen eines liberalen Widerstandes gegen die Corona-bedingten Beschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens.4 Mit dem Slogan ist gemeint, dass die tiefgreifenden Entscheidungen, wann, wie, und in welchem Maße das öffentliche Leben durch massive Grundrechtseinschränkungen unterbrochen wird, nicht ohne die Bürgerinnen, die von den Einschränkungen betroffen sein werden, gemacht werden dürfen. Die von den Demonstranten vorgebrachte Kritik, die im Übrigen auch von vielen Intellektuellen geäußert wurde, zielt auf die Befürchtung, der Staat würde in der Krise immer stärker autoritäre Züge annehmen, bei denen der Schutz der Gesundheit alle anderen Werte (allem voran die individuelle Autonomie) übertrumpft. Dagegen müsse die Freiheit der Bürgerinnen verteidigt werden, die sich nicht durch das übermäßige Schüren der Ängste einschüchtern lassen dürfen.

      Hinter diesem sich heroisch gebenden Gestus des liberalen Widerstandes gegen die so wahrgenommene ›Corona-Hysterie‹ steckt allerdings wenig Substanz. In diesem Essay möchte ich zeigen, dass die Corona-bedingten Einschränkungen nicht notwendigerweise als illiberal zu bezeichnen sind. Im Gegenteil: Die Einschränkungen lassen sich sogar mit einer explizit liberalen Theorie der politischen Legitimität begründen. Liberale Theorien basieren auf der Idee, dass unsere Freiheit dort endet, wo sie eine Gefährdung für andere darstellt. Oder anders ausgedrückt: Der einzige Zweck, für den politische Herrschaft auch gegen den Willen der Einzelnen ausgeübt werden darf, ist die Vermeidung von Schädigungen anderer. John Stuart Mill, einer der einflussreichsten Denker des klassischen Liberalismus, formuliert so das liberale Grundprinzip (Mill 2010 [1859], S. 19). Zumindest diejenigen Demonstranten, die sich für demokratisch, liberal und antiautoritär halten, könnte dieses Argument interessieren.

      Das Zustimmungsprinzip

      Zurück also zu den Hygiene-Demos. Hinter dem Slogan »Nicht ohne uns!« scheint eine Sicht auf die Rechtfertigbarkeit staatlichen Handelns zu stehen, die politische Legitimität vom Kriterium der Zustimmung abhängig macht, etwa im folgenden Sinne: Regierungshandeln ist dann legitim, wenn die Bürgerinnen ihm zustimmen. Sie müssen aber in jedem Fall gefragt werden; und wenn bestimmte Maßnahmen ausdrücklich von der Mehrheit nicht gewünscht sind, dann sind sie dem Zustimmungsprinzips zufolge auch nicht legitim. Das Zustimmungsprinzip wird ideengeschichtlich auf John Locke zurückgeführt, einen der Urväter des Liberalismus. Lockes Legitimitätsverständnis wendet sich gegen die damals vorherrschende Idee, dass einige Menschen dazu geboren seien, zu herrschen, während die meisten anderen dazu geboren seien, zu dienen. Dieser Idee einer natürlichen oder naturgegebenen Herrschaft hielt Locke ein damals radikales Verständnis menschlicher Gleichheit entgegen: Niemand ist natürlicherweise ein Sklave, alle sind gleichermaßen frei. Politische Herrschaft ist in dem Sinne nur dann gerechtfertigt, wenn sie aus freien Stücken angenommen wird.

      Das Zustimmungsprinzip bietet eine elegante Erklärung staatlicher Legitimität, denn es ist einfach und passt zu den Grundsätzen unseres liberal-demokratischen Rechtsstaats, der die Autonomie von Personen ernst zu nehmen verspricht. Trotzdem ist es letztlich unplausibel. Erstens besteht das Problem der rekursiven Schleife: Um Zustimmung einzuholen, müssen zunächst eine Frage formuliert und Optionen definiert werden. Das allein strukturiert schon den Raum des politisch Möglichen auf eine bestimmte Weise, und aus diesem Grund fordert auch die Art der Formulierung der Frage und der Optionen Zustimmung. Zumindest muss dem Prozess, in dem politische Fragevorschläge formuliert werden, zugestimmt werden. Den Prozess kann man dabei unterschiedlich gestalten, wobei sich die Unterschiede wiederum auf die Struktur der politischen Entscheidungsfindung auswirken. Ein robuster Voluntarismus ist also in einer rekursiven Schleife gefangen, denn jeder politischen СКАЧАТЬ