Название: Nachdenken über Corona
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783159618364
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Alexandra Tiefenbacher (Zürich) befasst sich in ihrem Beitrag »Das Prinzip der Freiwilligkeit belohnt die Falschen« mit den Nachteilen des Freiwilligkeitsprinzips, das den Corona-Maßnahmen einiger Länder zugrunde liegt. Zwar galten zeitweise die Maßnahmen der Schweiz und Schwedens vielen als vorbildlich, weil sie anstelle von Verboten auf die Souveränität ihrer Bürgerinnen setzen. Das Freiwilligkeitsprinzip hat aber auch gravierende Nachteile: Insbesondere erzeugt es Tiefenbacher zufolge ein Fairnessproblem, denn von freiwilligen Maßnahmen profitieren vor allem diejenigen, die sich nicht an die Maßnahmen halten: die Trittbrettfahrer. Damit werfen die Corona-Maßnahmen ähnliche Probleme auf wie die größtenteils freiwilligen Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise. In beiden Fällen spricht Tiefenbacher sich für verbindliche Regelungen aus, die die Lasten fair verteilen.
Yannic Vitz (Berlin) erinnert in seinem Beitrag »Applaus, Applaus!« an den Beifall für die von der Arbeit heimkehrenden Pflegekräfte, der in den ersten Monaten der Pandemie von den Balkonen erschallte. Das Echo auf diesen Applaus war nicht nur positiv. Es war von Zynismus die Rede; viele Pflegekräfte empörten sich öffentlich. Doch worin besteht eigentlich genau das Problem? Vitz macht geltend, dass Applaus moralisch durchaus unangemessen sein kann, und zwar dann, wenn er Ausdruck eines heuchlerischen Lobs ist. Oft ist es völlig in Ordnung, andere für etwas zu loben, was man selbst nicht tut, in bestimmten Fällen aber nicht. Die von Vitz skizzierte ›Ethik des Lobs‹ versucht, das Phänomen des heuchlerischen Lobs genauer zu bestimmen.
Wir möchten uns bei all jenen bedanken, die Beiträge zum Wettbewerb eingereicht haben. Ein besonderer Dank gilt Kerstin Helf und Sara Nothnagel, die uns bei der Durchführung des Wettbewerbs und bei der Arbeit am Manuskript vielfältig unterstützt haben.
Berlin, im Dezember 2020
Geert Keil und Romy Jaster
Christian Budnik
Vertrauen als politische Kategorie in Zeiten von Corona
Vertrauen ist ein Phänomen, das uns vor allem in Nahbeziehungen wie Freundschaften, Liebes- oder Familienbeziehungen begegnet, es spielt aber auch in sozialen und politischen Zusammenhängen eine wichtige Rolle. Vertrauen kommt immer dann zum Tragen, wenn Personen sich in einer Situation der Unsicherheit befinden. Bei Gewissheit ist es fehl am Platz. So wäre es etwa verfehlt, davon zu reden, dass man darauf vertraut, nicht bestohlen zu werden, nur weil der potenzielle Dieb im Koma liegt. Sich bezüglich des Verhaltens von Personen nicht vollkommen sicher zu sein, ist demnach eine Voraussetzung dafür, dass man ihnen vertraut. Vertrauen wiederum schafft eine spezielle Art von Sicherheit und ermöglicht uns auf diese Weise, in im weitesten Sinne kooperative Verhältnisse zu treten, bei denen es keine Garantien gibt und manchmal auch nicht geben kann.
Vertrauen durchdringt unseren Alltag auf zahlreichen Ebenen und lässt viele unserer Handlungen vernünftig erscheinen, für die wir ansonsten keine oder zumindest keine hinreichenden Gründe angeben könnten. Warum entspannen wir uns etwa auf einem Sitzplatz in der Straßenbahn? Es könnten ja Mörder auf den Bänken hinter uns lauern. Sind wir uns wirklich sicher, dass im Freibad, im Supermarkt, im Flugzeug, im Park, beim Friseur keine Gefahren lauern? Wir haben dies in der Regel nicht genau überprüft, haben keine Charaktertests durchgeführt, keine eigenen Überwachungskameras installiert. Und dennoch benutzen wir weiterhin öffentliche Verkehrsmittel, gehen im Park spazieren und lassen uns im Friseursalon mit scharfen Gegenständen am Kopf herumhantieren. Ist das nicht eine an Irrsinn grenzende Waghalsigkeit, da es immerhin um die wichtigsten Güter wie unser Leben und unsere Gesundheit geht? So kann nur denken, wem Vertrauen fremd ist. Vertrauensvoll zu handeln bedeutet gerade, dass wir uns – zumindest dann, wenn unser Vertrauen seinerseits nicht unvernünftig ist – auf angemessene Weise darauf verlassen, dass Personen sich auf eine bestimmte Weise verhalten werden, obwohl wir uns dabei keinesfalls sicher sein können.
Die Corona-Krise ist primär eine medizinische Krise, aber sie ermöglicht gleichzeitig die Einnahme einer Perspektive, von der aus die hier skizzierte Vertrauensdynamik auf besonders deutliche Weise in den Blick rückt. Viele der Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaften seit dem Ausbruch der Pandemie konfrontiert sind, lassen sich als Vertrauensprobleme verstehen. Die politischen Gefahren, die mit der Pandemie verbunden sind, machen deutlich, auf welche Weise das Funktionieren demokratischer Systeme von Vertrauen abhängt. Die Lösungen schließlich, die im Umgang mit der Corona-Krise gefunden werden müssen, werden auch mit dem Problem fertigwerden müssen, wie unsere Gesellschaften nach den seismischen Erschütterungen, die uns zu Beginn der Pandemie erfasst haben, wieder zu einem vertrauensvollen Miteinander finden sollen. Umso wichtiger erscheint vor diesem Hintergrund die philosophische Reflexion auf den Begriff des Vertrauens. Im Folgenden werde ich zunächst drei Merkmale der Krise rekonstruieren, die verstehen helfen sollen, inwiefern in ihr auch Vertrauen auf dem Spiel steht. In einem zweiten Schritt werde ich aufzeigen, um welches Vertrauen es im Rahmen der Corona-Krise genauer geht und warum in Zeiten von Corona Misstrauen so weit verbreitet ist. In einem abschließenden dritten Teil werde ich andeuten, wie uns ein angemessenes Nachdenken über Vertrauen aus der Krise helfen könnte. Dabei werde ich die möglicherweise überraschende These vertreten, dass wir mit Vertrauen als politischer Kategorie gerade in der momentanen Situation ganz besonders behutsam umgehen sollten.
Drei Merkmale der Corona-Krise
Worauf würden wir in Zeiten einer Pandemie gerne vertrauen können? Wer sind die in diesem Zusammenhang relevanten Akteure? Und unter welchen Bedingungen ist unser Vertrauen in sie angemessen? Für ein Verständnis der Frage, welche Form von Vertrauen in der Corona-Krise auf dem Spiel steht, ist es hilfreich, sich zunächst drei Merkmale der Situation vor Augen zu führen, in der wir uns seit Beginn von 2020 befinden. Diese drei Merkmale sind weder für sich genommen noch in ihrer Gesamtheit einzigartig. Außerdem lassen sich strukturähnliche Situationen denken, die zu ähnlichen Herausforderungen für das Vertrauen in einer Gesellschaft führen würden oder in der Vergangenheit geführt haben. Meiner Meinung nach ist aber die Art und Weise, wie sie sich in der gegenwärtigen Krise realisiert haben, außergewöhnlich genug, um von der Corona-Krise als einer in den letzten Jahrzehnten singulären Herausforderung an Vertrauen reden zu können.
Bei der Corona-Krise handelt es sich erstens um eine umfassende Krise, von der das Leben und die Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger direkt betroffen sind. Zwar gibt es Fluktuationen in der Schwere der Covid-19-Erkrankung in unterschiedlichen Personengruppen, aber niemand ist vor der Krankheit oder einem schlimmen Krankheitsverlauf gefeit und kann sich entsprechend in Sicherheit wiegen. Nach momentanem Stand der Dinge gilt das sogar für Personen, die die Krankheit bereits durchgestanden haben. Die Tatsache, dass wir es hier nicht mit einem lokalen Problem und außerdem mit einer Krise zu tun haben, die mit gravierenden Gefahren verbunden ist, lässt es beinahe fraglos erscheinen, dass die Eindämmung und Bewältigung der Krise zu den Aufgaben von politischen Akteuren, d. h. im Wesentlichen Mitgliedern von Staatsregierungen, gehört. Was auch immer als die Aufgabe eines Staates verstanden wird, so gehört doch der Schutz des Lebens und der Gesundheit seiner Bürger in jedem Fall dazu. Selbst extrem staatsskeptisch oder freiheitsfreundlich eingestellte Personen werden sich darauf festlegen lassen, dass es im Fall von Katastrophen wie einem Erdbeben, einer Überflutung oder eben einer Pandemie zur Aufgabe eines Staates gehört, die Gefahr für Leib und Leben, die für seine Staatsbürgerinnen besteht, zu beseitigen oder zumindest abzumildern. Das erste Merkmal der Corona-Krise verweist auf diese Weise auf eine Gruppe der zentralen Akteure, nämlich politische Entscheidungsträger, sowie die Aufgabe, die ihnen im Zuge der Krise zukommt, nämlich den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bürger.
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