Reisen. Helon Habila
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Название: Reisen

Автор: Helon Habila

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783884236376

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СКАЧАТЬ Das Laub färbte sich allmählich rot. Schon jetzt klang der Sommer aus. Als wir letzten Oktober herkamen, fiel bereits das bunte Laub. Ende Oktober hatte ich am Fenster gestanden und ein einsames Blatt betrachtet, das sich hartnäckig an seinen Ast klammerte, und gedacht, dies müsse das letzte Blatt in der ganzen Straße, der ganzen Stadt, ach was, der ganzen Welt sein, das noch am Baum hing und das genau vor meinem Fenster. Der Herbst ist meine liebste Jahreszeit; ein Augenblick des Dazwischen, weder Winter noch Sommer, und so kurz. Ich beobachtete gern, wie der Wind und die vorbeifahrenden Autos die Blätter wirbeln und kreisen ließen, sie wehten hoch und trudelten hinab, häufelten sich am Gehwegzaun auf. Ich beobachtete gern, wie die Kinder gegenüber mit dem Laub spielten, es zusammenrafften und einander über den Kopf regnen ließen. Sie fassten sich an den Händen und hüpften kreischend durch die rotbraungelben Blätter, beruhigt und aufgestachelt durch das Knirschen und Knacken unter ihren Füßen, und ihr helles Lachen stieg von der Straße hoch in die entlaubten Bäume, erschreckte die Vögel, stieg hoch zu den Balkons und Fenstern, die immer noch offen standen, dem nahenden Winter zum Trotz.

      8

      Mark war schon wach, saß auf dem Sofa und sah durch die offene Balkontür auf die Wipfel der Pappeln, die die Straße säumten. Er war bis zum Hals in eine Decke gewickelt und wie er so dasaß, ausnahmsweise fast reglos, wirkte er verletzlich, nahezu kindlich. Er hatte auf dem Balkon geraucht und der Geruch war ins Zimmer gewabert. Gina habe zu einer Veranstaltung müssen, teilte ich ihm mit.

      „Ja, ich habe mitbekommen, wie sie gegangen ist“, erklärte er.

      Sie hatte mir nicht erzählt, wohin sie ging. In letzter Zeit schien sie immer gerade dann zur Wohnungstür hereinzukommen, wenn ich ging oder zu gehen, wenn ich kam; sie wachte auf, wenn ich schlafen ging. Am Vortag hatten wir nebeneinander im Badezimmer gestanden, redeten aber nicht miteinander, weil jeder den Mund voller Zahnpasta hatte, starrten uns nur im Spiegel über dem Waschbecken an, ein kurzer Blickkontakt, dann beugte sie sich vor und spuckte ins Wasser, das schäumend in den Abfluss strudelte. Ich dachte oft an Gina in ihrem Atelier, die den ganzen Tag allein war, mit Farben und Strichen, Angst und Hoffnung kämpfte, dem Pinsel Formen abrang, Gliedmaßen, Gesichter, Haare, Augen, und manchmal zutiefst zweifelte, ob sie die ideale Form im Platon’schen Sinne, die sie vor ihrem geistigen Auge hatte, einfangen konnte. In unserer Berliner Anfangszeit schien sich alles zu fügen, aber jetzt hielt sie sich manchmal nur im Atelier auf, um mir aus dem Weg zu gehen, so wie ich mich meinerseits mit Mark und seinen Freunden traf, um ihr auszuweichen. Manchmal wenn sie aus dem Atelier kam und mich lesend oder fernsehend im Wohnzimmer vorfand, wirkte sie überrascht von meiner Anwesenheit, dass es mich gab und sie gab, Mann und Frau gemeinsam unter einem Dach. Ich hätte nicht sagen können, wann sich dieses Unbehagen eingeschlichen hatte. Ich wollte sie umarmen und schweigend gemeinsam dasitzen, wie wir das vor langer Zeit oft getan hatten, aber dazu wäre eine enorme Energie nötig gewesen und die hatte ich nicht. Stattdessen schlüpfte ich in meine Jacke und streifte durch die einsamen Seitenstraßen von Berlin. Nichts und Niemand ist so einsam, wie ein einsamer Fremder in einer fremden Stadt.

      „Wie habt ihr euch kennengelernt?“, wollte Mark wissen.

      „Vorher brauche ich einen Tee“, sagte ich. „Willst du auch einen?“

      „Lieber Kaffee, wenn du welchen hast.“

      „Kein Problem.“

      Als ich mit den Tassen kam, hatte er sich aus der Decke geschält und war bereits angezogen. Ich hatte Gina im März 2007 bei einer Wahlkampfveranstaltung Obamas an der American University in Washington kennengelernt. Obama hatte kurz zuvor seine Präsidentschaftskandidatur verkündet und Gina war eine seiner Wahlkampfhelferinnen. Irgendwann stand sie neben mir, umringt von ihren Freunden, die ebenfalls alle in Obamas Wahlkampfteam waren und entsprechende Buttons trugen. Noch nie hatte ich jemanden gesehen, der so schön war. Zweimal trafen sich unsere Blicke und ich spürte, dass auch ich ihr aufgefallen war – ich bekam kaum ein Wort des Kandidaten mit, war viel zu beschäftigt mir eine Strategie auszudenken, wie ich sie ansprechen könnte, aber noch ehe ich meinen Mut zusammenraffen konnte, waren sie weg, wurden dem Kandidaten vorgestellt.

      „Was hast du in den USA gemacht?“

      „Ich bin 2006 mit einem Stipendium rüber – ich habe dort meine Dissertation geschrieben. Wie es das Schicksal wollte, studierte sie ebenfalls Geschichte. Eine Woche darauf traf ich sie in der Bibliothek und diesmal gab es kein Halten mehr für mich. Als ich erwähnte, ich sei aus Nigeria, erzählte sie, ihr Vater sei Fulbright-Stipendiat in Nigeria gewesen. Und so fing es an. Jetzt du“, sagte ich.

      „Was willst du wissen?“

      „Erzähl mir von Malawi. Hast du Geschwister?“

      „Ja. Zwei von jeder Sorte, ich bin das Sandwichkind.“ Er klang ernst, der leichtfertige, schwer fassbare Mark war für einen Moment lang verschwunden.

      „Erzähl mir von ihnen, von deiner Familie.“

      „Ich … mein Vater und ich waren selten einer Meinung. Habe ich schon erwähnt, dass er Pfarrer war?“

      „Ja. Welche Glaubensgemeinschaft?“

      „Seine Pfarrei gehörte zur Pfingstbewegung, eine der wenigen in Lilongwe. Als ich kleiner war, hat er mich ermuntert, bei der Kirchentheatergruppe mitzumachen. Ich habe es geliebt, hatte schon früh eine Neigung dazu. Wir spielten hauptsächlich biblische Geschichten nach. Ich liebte es, auf der Bühne zu stehen, liebte die Macht, die Gemeinde mit meiner Tollpatschigkeit, mit Worten und Gesten zum Lachen oder zum Weinen zu bringen. Ich spielte immer die Hauptrolle. Einmal war ich der Verlorene Sohn, der ausgestoßen wurde und mit den Schweinen aß und bei der Heimkehr von seinem Vater mit offenen Armen aufgenommen wurde, dann wieder war ich Josef, den seine Brüder in den Brunnen geworfen hatten. Ich kann verstehen, warum Schauspieler manchmal schizophren werden. Man geht so leicht in der Rolle auf und sich davon zu lösen, ist problematisch. Ich war jeweils felsenfest davon überzeugt, dass ich diese Person war. Wahrscheinlich bin ich schon damals vor etwas geflüchtet, wovor, weiß ich nicht. Meine Kindheit, das war nur die Kirche, keinerlei andere Interessen. Während meine Freunde draußen herumstromerten, Sport trieben und andere Hobbys entdeckten, blieb ich in der Kirche, immer unter dem wachsamen Auge meines Vaters. Mehr gab es in meiner Kindheit nicht. Als ich mit der weiterführenden Schule fertig war, wollte ich natürlich Schauspiel studieren, aber das kam für meinen Vater nicht in Frage.“

      „Warum?“

      Mark zog aus seiner Jackentasche eine Zigarettenschachtel heraus. Wir stellten uns auf den Balkon und rauchten. „Schauspieler in der Kirche zu sein, war okay, aber außerhalb nicht. Schauspieler sein heiße, eine Lüge zu leben, behauptete er. Mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen sein Geld zu verdienen. Gottlos, nannte er es. Aber mit Hilfe meiner Mutter gelang es mir doch. Ich lud die gesamte Familie zu meinem ersten Auftritt ein. Ich spielte die Hauptrolle in Sizwe Bansi ist tot von Athol Fugard. Da war ich neunzehn. Ich hatte mich enorm ins Rollenstudium reingekniet, damit ich den passenden Tonfall, die entsprechenden Bewegungen fand. Aber trotzdem konnte ich, sogar von der Bühne aus, die Enttäuschung im Gesicht meines Vaters sehen.“

      „Was genau hat ihm denn missfallen?“, fragte ich.

      Mark nahm einen tiefen Zug, lehnte sich dann über die Balkonbrüstung und schnipste die Kippe weg. „Er meinte, es bringe Schande über die Kirche. Es sei zu weltlich. Dazu muss man wissen, dass mein Vater für die Kirche, für die Bibel lebte, das war sein gesamter Lebensinhalt. Ich war dermaßen enttäuscht, dass ich nicht mehr nach Hause fuhr. Während der Semesterferien wohnte ich bei Freunden und wir spielten in kleinen Theatern, in Nachtclubs und auf der Straße und verdienten genug für unseren Unterhalt. Es machte Spaß. Meine Mutter besuchte СКАЧАТЬ