Название: Frauenschneider Gutschmidt
Автор: Otto von Gottberg
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711529973
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„Und in Berlin?“ fragte Frau von Hemmern in gespannter Erwartung, aber die Kunze trat ein. Ihr Gesicht kündete Unheil. Die Farbe ihrer Backen war noch dunkler als sonst.
„Frau Baronin, es steht oben schlecht. Wir haben schon nach dem Geheimrat geschickt, und er geht gerade die Treppe hinauf. Vierzig Grad Fieber hatte die Schwester gemessen.“
Frida hob die Hände zur Brust:
„Machen, vierzig Grad Fieber!“
Aber die Mutter wiegte mit einem bedauernden Blick auf den Kirchenkastellan den Kopf:
„Die Herren sind gleich so empfindsam. Mein Mann war nie ernstlich krank, und nun er einmal liegt, nimmt es ihn mit. Aber die Blinddarmoperation ist glücklich verlaufen und die Folgen übersteht heutzutage jeder. Auch haben wir den besten Helfer hier.“
Ihre Hand wies gegen den Besucher. Doch der Kastellan stand auf und glättete mit flinkem Griff in die Knöpfe das Brusttuch des schwarzen Rocks. Wohl nickte er, als sei ihm sofortiges Heilen des Gesandten ein leichtes, aber fragte auch argwöhnisch:
„Wer ist der Geheimrat?“
„Dr. Sünder, der bekannte Chirurg, der meinen Mann operiert hat.“
Über das Gesicht des Kastellans huschte ein Schatten. Er kannte das Gesetz zu gut, um seinen Klienten das Befragen von Ärzten zu verbieten, aber von ihm hören durften sie nicht. Auch hatte der alte Sünder — ein Grobian — ihm schon einmal den Weg vertreten. Es schien geraten, der Sitzung ein Ende zu machen.
„Frau Baronin, mit meinen ärztlichen Kollegen konkurriere ich nicht. Ich gönne ihnen ihr Brot, aber nie dürfen sie von meinen Besuchen erfahren. Für heute — Gruss des Herrn, meine Damen!“
Der Schlusssatz klang wieder wohlwollend und beruhigte die über den plötzlichen Aufbruch erschreckte Frau von Hemmern. Mit der Bitte, er möge morgen um die gleiche Stunde vorsprechen, drückte sie warm des Eilenden Hand. Die Kunze bat die Herrin, nach dem Kranken zu sehen. Seufzend schritt sie zur Tür und legte die Hand auf die Klinke:
„Begleitest du mich, Kind?“
„In Papas Schlafzimmer? Wo denkst du hin, Machen.“
Frida griff nach Muff, Jacke und Handschuhen, aber liess die Sachen wieder fallen. Das Umkleiden schien überflüssig. Ausgehen konnte sie nicht, denn vierzig Grad Fieber waren ernst zu nehmen. Auf der Mutter Rückkehr wartend, durchschritt sie, die Hände auf den Hüften, das Zimmer. Ihre Augen hafteten auf einem Bild an der Wand. Sie blieb stehen. Der Alte mit Vatermörder und breiter Binde unter dem kahlen starkknochigen und willensharten Gesicht war der Grossvater, von dem die heute lebenden Hemmerns stammten. Vor einem halben Jahrhundert geadelt, hatte der Kinderlose auf der westfälischen Erde, aus der er als ein Grosser der Schwerindustrie Reichtümer hob, das Majorat Herkelsbrühl gegründet und die Erlaubnis zum Vererben auch des Freiherrntitels an bürgerliche Agnaten erwirkt. Der oben im Krankenbett liegende Vater trug ihn als ältester Neffe. Ein jüngerer, der Vater des Vetters Ernst, war früh gestorben.
Wo Machen nur blieb? Fast eine Viertelstunde musste sie oben sein. Stand es schlimm um den Vater, der ihr eigentlich ein Fremder war? Selten und nur als Besucher vom Ausland kam er in die Atmosphäre des Spitals und der Apotheke im mütterlichen Haus, aber niemals hatte er seinem Kind einen Wunsch versagt.
Sie hörte Tritte auf der Treppe. Die Mutter öffnete die Tür. Ihre Hand hielt ein Riechfläschchen an die Nase. Also war sie um ihre Ruhe gekommen.
„Er fiebert stark und redet irres Zeug, das ich nicht verstehen kann. Der Geheimrat wollte sich noch nicht äussern.“
Schlimmes schien Machen nicht zu befürchten. Aber müde schleppte sie sich zum Schreibtisch. Frida umfasste ihre Schulter und zog sie in das kleine Sofa. Als Stärkere musste sie Machen an Tagen der Sorge stützen. Den rechten Arm um sie legend, strich sie mit der Linken über den schlichten grauen Scheitel. Sie spürte ein Zittern unter ihren Fingern und wohl darum plötzlich ein Ahnen von Schrecklichem. Statt der Mutter zuzureden, wartete sie schweigend.
Endlich riss Sünder, der Grobian, die Tür auf. Ernst, düster, ja vorwurfsvoll blickten die blanken blauen Augen, zu denen ein viereckiger weisser Vollbart über die Backenknochen hinaufwuchs. Er verneigte sich kurz, rieb die Hände aneinander und nagte an den Lippen. Das Bild der dem sterbenden Mann und Vater fern müssig Sitzenden verdross ihn. Sie waren von den Frauen, die er leere nannte, weil leer, wie gemeinhin ihr Schoss, ihr Kopf und ihr Leben war. Warum strickten sie nicht Strümpfe für Soldaten im Feld? Strafe verdienten sie.
„Baronin“ — seine Stimme war rauh und die Geste grob — „gehen Sie hinauf, wenn Sie Ihren Herrn Gemahl noch am Leben finden wollen!“
Frida hob die Hand zum Kopf, der schwindelnd gegen die Lehne fiel, und fühlte die Mutter gegen ihre Schulter sinken. Aber sie war die Stärkere und musste die Schwache stützen. Sie umfasste die Aufschluchzende und zog sie auf die Füsse. Der Arzt schritt voran. Als er die Tür zum Krankenzimmer öffnete, schien es Frida, als erwache der Vater aus dem Delirium. Flackernde irre Augen schlug er zu den verstörten Gesichtern der Seinen auf. Die Pupillen verengten sich noch einmal. Er bewegte sogar die Lippen und wollte wohl sprechen, aber dachte vielleicht, dass er Frau und Tochter wenig Tröstliches sagen könne, denn müde kehrte er ihnen und dem Leben den Rücken und die Augen zur Wand. Eine Viertelstunde ging. Die Mutter schluchzte im Sessel, den die Pflegerin neben das Kopfkissen geschoben hatte. Frida zitterte am Fussende des Lagers. Die Hände auf die Messingstange gestützt, starrte sie aus brennenden Augen auf des Vaters Kopf, der plötzlich in den Kissen rollte.
Da nahm der Arzt die Finger vom Puls des Freiherrn:
„Gnädige Frau, Ihr Herr Gemahl hat nicht lange gelitten.“
Die Augen schliessend verbeugte er sich, als wollte er sagen: „Meine Pflicht ist getan, euch mag ich nicht helfen.“ Vom Bett tretend, gestand er sich dann, sein Glaube, dass die Damen die nackte Wahrheit hören könnten, habe ihn wohl doch getäuscht. Laut aufschreiend warfen sie sich am Sterbebett in die Knie. Die Frau umklammerte des Toten Hand, als wolle sie ihn nicht lassen. Die Tochter faltete die Finger und legte den bebenden Kopf darauf. So blieben sie, bis er die Fassungslosen von der Schwester aus dem Zimmer führen liess.
Sie gingen nicht zur Nuhe und durchwachten die Nacht. Weinkrämpfe schüttelten die Mutter. Mut konnte Frida ihr nicht zusprechen. Ihr war, als könne auch sie sich nicht aufrecht halten. Dabei machte sie sich Vorwürfe, dass ihre Tränen nicht nur dem Tod des stillen, gütigen Vaters galten. Sie weinte noch mehr über ihr eigenes Geschick. Im Schweigen der stillen Nachtstunden sah sie ihre Zukunft für immer vernichtet. Einmal in den Abgrund der Armut gefallenen Frauen bot sich selten die rettende Hand, die wieder die Höhen des Wohlstandes ersteigen half. Kein Lichtschimmer erhellte ihr schwarzes Elend. Es galt auszuziehen aus Herkelsbrühl und dem Haus hier in der Königgrätzer Strasse. Pferde, Wagen und Automobil mussten verkauft werden. Sie hatte mit der Mutter in eine Kleinstadt zu ziehen oder gar in eine der Etagenwohnungen des Berliner Westens. Dort sah sie sich ihre Armut — vielleicht gar Einkäufe für Haus und Küche — im Fahrstuhl oder auf der Treppe an neugierigen Mitbewohnern der Familienkaserne vorbeitragen. Mit den hübschen Kleidern war es vorbei. Wie sollte sie künftig ihren Freundinnen begegnen im Fähnchen, genäht von einer Schneiderin, die als verdienten Lohn ihres Ungeschicks täglich drei Mark und Butterstullen erhielt? Bedauern und bemitleiden würden sie Bekannte, die ihr einst geschmeichelt und sie bewundert hatten. СКАЧАТЬ