Название: Keine Panik, ehrliche Spiegel altern immer mit!
Автор: Arno Backhaus
Издательство: Bookwire
Жанр: Афоризмы и цитаты
isbn: 9783775174893
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Irgendwann haben wir uns entschlossen, meiner Mutter keine Gespräche mehr aufzudrängen …
Logisch, viele Angehörige dieser Generation haben nicht gelernt, selbstständig zu reflektieren, Gutes und Schlechtes zu analysieren. Erst recht nicht meine Mutter, die streng religiös erzogen wurde und schlimme Gewalt erfahren hat. Druck, Zwang und Schläge gehörten in ihrer Familie zum Tagesprogramm. Und diese Prägung hat sie eben an mich weitergereicht.
Irgendwann haben wir uns entschlossen, meiner Mutter keine Gespräche mehr aufzudrängen, sondern sie »in Frieden« zu lassen. Je mehr ich mir bewusst gemacht habe, was meine Mutter wohl in ihrer eigenen Kindheit erlebt hat, desto mehr Mitleid habe ich gespürt.
Das hat mir dabei geholfen, sie für das zu achten, was sie mir gegeben hat, auch wenn ihre Verhaltensweisen bei mir einen Mangel verursacht haben. Einen Mangel an Liebe und Selbstbewusstsein, den ich später mühsam ausgleichen musste.
Aber Liebe macht manchmal keinen Spaß.
Mutter Teresa hat sicherlich keinen Spaß daran gehabt, in den Slums von Kalkutta im Dreck zu leben und stinkenden und kranken Menschen zu dienen. Aber sie hat es trotzdem getan. Aus Liebe – nicht weil es so lustig gewesen wäre und weil es Spaß gemacht hätte.
Und Jesus hat es auch keinen Spaß gemacht, am Kreuz von Golgatha für uns zu sterben. Zutiefst gedemütigt und unter furchtbaren Schmerzen. Aber er hat es trotzdem getan. Aus Liebe.
Wenn ich das Verhältnis zu meiner Mutter aus dieser Perspektive betrachte, rückt dies die Prioritäten zurecht: Ich kann meine Mutter lieben, ohne dass ich mit ihr viele positive Erlebnisse verbinden muss.
Denn Liebe ist eine Entscheidung, manchmal gegen meine Gefühle, und sie ist nicht zwingend mit Spaß verbunden. Aber Liebe ist sinnvoll und wichtig, weil sie Menschen verändern kann.
ICH HABE MICH MIT MEINER MUTTER NIE VERSÖHNT, ABER ICH HABE IHR BEWUSST VERGEBEN.
Die Bereitschaft zu dieser Vergebung bekam ich in einem Gottesdienst am Nollendorfplatz in Berlin. Pastor Volkhard Spitzer brachte die amerikanische Bewegung der Jesus People nach Berlin und war als »Hippie-Pastor« bekannt. In den Medien wurde viel über ihn berichtet.
Klar, dass ich mir das auch mal anschauen musste. Und es wurde eine besondere Erfahrung. Nach der Predigt ließ der Pastor zehn Minuten Zeit der Stille, in der jeder Zuhörer über das Verhältnis zu seinen Eltern nachdenken konnte.
Ich kniete damals vor einem der typischen Nolli-Kinosessel und hatte den Eindruck, dass Gott von mir wollte, dass ich meiner Mutter vergebe. Dort in der Stille habe ich meinen ganzen Schmerz »herausgeschrien«. Ich habe Gott gebeten, meiner Mutter zu vergeben und mir ebenfalls zu diesem inneren Schritt zu verhelfen.
Dieses Erlebnis hat mein Verhältnis zu meiner Mutter verändert; ich konnte sie von da an mehr und mehr achten und wertschätzen. Ich habe gelassener auf ihre Vorwürfe reagiert und versucht, sie mit Gottes Augen zu sehen.
Erst Jahre später wurde uns klar, dass meine Mutter AD(H)S hatte, und nach allem, was sie über ihren eigenen Vater erzählt hat, wohl auch er. Manche Verhaltensweisen meiner Mutter passen genau in das AD(H)S-Raster:
• Sie war extrem vergesslich, und um die Dinge behalten zu können, schrieb sie alles Wichtige in ein kleines schwarzes Vokabelheft.
• Sie war, was soziale Aktionen betraf, übermäßig hilfsbereit. Immer mal wieder lud sie Obdachlose zu uns zum Essen ein und gab ihnen sogar manchmal Geld mit auf den Weg.
• Sie war impulsiv, im Negativen wie im Positiven.
• Bis ins hohe Alter fuhr sie immer wieder in die Innenstadt von Kassel. Dort hielt sie sich in der Fußgängerzone auf, kaufte eine Kleinigkeit und setzte sich in ein Café. Sicherlich hat sie eine Abwechslung zu ihrem Alltag gesucht. Die Schaufenster, die vielen Menschen und das Gewusel müssen ihr immer wieder einen »Kick« gegeben haben.
Meine Mutter war, was meine Erziehung betraf, völlig hilflos. Sie wusste ja nichts von AD(H)S und dachte, ich sei »einfach nur ungezogen«. Der für mich positive Nebeneffekt bestand darin, dass es mir kaum etwas ausmachte, wenn sie mit mir schimpfte.
Aber wehe, wenn mein Vater ärgerlich wurde! Dann habe ich mich jedes Mal in Grund und Boden geschämt. Ich habe mich wirklich schlecht gefühlt. Und zwar nicht, weil er mich hart bestraft oder heftig getadelt hätte. Sondern mein Vater hatte eine natürliche Autorität, die mich anhand seiner Blicke wissen ließ, dass ich ihn enttäuscht hatte. Diese Blicke waren schlimmer als die Schläge meiner Mutter und schmerzhafter noch dazu. Sie trafen nämlich meine Seele.
Einmal habe ich meinem Vater zum Geburtstag ein Buch geschenkt. Schön, wenn die Geschichte hier schon zu Ende wäre, nicht wahr?
Ist sie aber nicht.
Mein Vater hat sich gar nicht über das Buch gefreut.
Warum? Er kannte das Buch bereits.
Auch jetzt fehlt noch etwas zur Vervollständigung der Story:
Es gehörte ihm nämlich schon. Ich hatte es aus seinem Bücherregal stibitzt, hübsch eingepackt und dann stolz auf seinen Geburtstagstisch gelegt. In der festen Überzeugung, dass dieser Schwindel nicht auffliegen würde.
Aber mein Vater war über den Bestand seiner Bücher absolut im Bilde.
Seinen Blick werde ich nie vergessen. Es gab keine Strafe oder Standpauke. Er war einfach enttäuscht, dass ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, etwas für ihn zu besorgen, und dann auch noch meinte, dass er den Trick nicht durchschauen würde.
Das hat gesessen. Seitdem habe ich mir deutlich mehr Mühe in solchen Dingen gegeben.
Wenn wir meiner Mutter ein Geschenk gemacht haben, hat sie als Allererstes gefragt: »Was hat das denn gekostet?«
Geld war immer ein wichtiges Thema bei uns zu Hause. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen, denn wir hatten genug. Nicht im Überfluss, aber doch genug, um nicht jeden Pfennig umdrehen zu müssen. Ein Grund dafür war, dass mein Vater, als ich fünf Jahre alt war, zum Regierungspräsidium in Kassel versetzt wurde.
Das bedeutete zwar für uns als Familie mehr Geld, aber für mich persönlich hieß es: Raus aus der Kleinstadt Frankenberg und hinein in eine Großstadt, in der ich weniger Möglichkeiten hatte, mich zu bewegen. Und das wurde mir zum Verhängnis.
Mein persönlicher Start in Kassel fiel dann auch eher mittelmäßig aus.