Название: Die Kunst des Aufstands
Автор: Wilfried Metsch
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
Серия: kritik & utopie
isbn: 9783854767053
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»Gegen Abend entspann sich der Kampf. Die Barrikadenkämpfer waren, hier wie überall, wenig zahlreich. Wo sollten sie auch Waffen und Munition hernehmen? Genug, sie leisteten der Übermacht langen und tapfern Widerstand, und erst nach ausgedehnter Anwendung der Artillerie, gegen Morgen, war das halbe Dutzend Barrikaden, das sich verteidigen ließ, in den Händen der Preußen.«119
Über den frühproletarischen Juniaufstand 1848 in Paris verfasst Engels in der »Neuen Rheinischen Zeitung« eine »rein militärische Darstellung des Kampfes«,120 nicht nur um die Tapferkeit des Pariser Proletariats zu würdigen, sondern auch um sich und die Arbeiterbewegung über Bedingungen und Chancen eines Sieges im Straßenkampf zu verständigen. Akribisch notiert er die Art und Weise der Hauptbefestigungen:
»Barrikaden von merkwürdiger Stärke waren hier errichtet, teils von den großen Pflasterquadern gemauert, teils von Balken zusammengezimmert. Sie bildeten einen Winkel nach innen zu, teils um die Wirkung der Kanonenkugeln zu schwächen, teils um eine größere, ein Kreuzfeuer eröffnende Verteidigungsfront darzubieten. In den Häusern waren die Brandmauern durchbrochen und so jedesmal eine ganze Reihe in Verbindung miteinander gesetzt, so daß die Insurgenten nach dem Bedürfnis des Augenblicks ein Trailleurfeuer auf die Truppen eröffnen oder sich hinter ihren Barrikaden zurückziehen konnten.«121
Engels lobt den Revolutionär Kersausie als den »ersten Barrikadenfeldherrn in der Geschichte«.122 Aber im Straßenkampf mit Barrikaden ist »die passive Verteidigung die vorwiegende Kampfform«,123 die Initiative bleibt beim Militär.
Warum scheitern die Barrikadenkämpfe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts?
Marx und Engels stellen zwei militärische Hauptursachen fest:
1.Die »Verfügung über Geschütz und (…) geübte Genietruppen«124
Der brutale Einsatz von Kanonen durch das Militär im Straßenkampf überraschte die Insurgenten, denn »bisher war nur einmal in den Straßen von Paris mit Kanonen geschossen worden – im Vendemiaire 1795, als Napoleon die Insurgenten in der Rue Saint Honore mit Kartätschen auseinanderjagte. Aber gegen Barrikaden, gegen Häuser war noch nie Artillerie angewandt und noch viel weniger Granaten und Brandraketen. Das Volk war noch nicht darauf vorbereitet; es war wehrlos dagegen.«125 Kann das Militär »ungehemmt durch politische Rücksichten, nach rein militärischen Gesichtspunkten«126 Kanonen gegen Barrikaden einsetzen, endet der Aufstand in einer blutigen Niederlage.
Die Niederschlagung des Wiener Aufstands 1849 steht mustergültig für die Asymmetrie im Barrikadenkampf:
»In den langen, breiten Straßen, die die Hauptverkehrsadern der Vorstädte bilden, wurde eine Barrikade nach der andern von der kaiserlichen Artillerie hinweggefegt«.127
2.Die »Festigkeit des Militärs«128
»In der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte (…) die Barrikade mehr moralisch als materiell.«129 Es handelte sich darum, die »Truppen mürbe zu machen durch moralische Einflüsse«.130 Die Erschütterung »der Festigkeit des Militärs« ist der »Hauptpunkt, der im Auge zu halten ist«,131 will man Chancen im Straßenkampf haben. Bleiben jedoch die »Soldaten zuverlässig«132 und kann das Militär ohne politische Rücksichten handeln, scheitert der Aufstand.
Immer wieder betont Engels, dass ein Sieg nur möglich war, »weil die Truppe versagte, weil den Befehlshabern die Entschlußfähigkeit ausging oder aber, weil ihnen die Hände gebunden waren.«133
Scheitert jedoch die Erschütterung und Demoralisierung der Armee, »so bewährt sich, selbst bei einer Minderzahl auf Seiten des Militärs, die Überlegenheit der besseren Ausrüstung und Schulung, der einheitlichen Leitung, der planmäßigen Verwendung der Streitkräfte und der Disziplin.«134 Zudem steht den militärisch unerfahrenen Insurgenten oft eine »brutale Soldateska« gegenüber, die sich in traditionellen Kriegen sowie »in den vielen kleinen Konflikten zwischen Militär und Volk«135 ausbilden konnte.
Als letztes Mittel zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung können die jeweiligen Machthaber außerdem auf verlässliche Kolonialtruppen und/oder auf koloniale Unterdrückungsmethoden oder in Vielvölkerstaaten auf intakte Militärverbände nationaler Minoritäten zurückgreifen. Als Beispiele seien nur genannt:
–»Cavaignacs Militärdiktatur aus Algerien nach Paris verpflanzt«136 während des Pariser Juniaufstands 1848. »Das Volk hatte bisher keine Ahnung von solch einer algierischen Kriegsführung mitten in Paris.«137
–Die englische Regierung benutzt Irland als »Vorwand«, um »eine große stehende Armee zu unterhalten, die im Bedarfsfalle, wie es sich gezeigt hat, auf die englischen Arbeiter losgelassen wird, nachdem sie in Irland zur Soldateska ausgebildet wurde.«138
–1893 warnt Engels die Sozialisten in Wien vor Generalstreik, Straßenkampf und Barrikaden, da »man Euch durch Tschechen, Kroaten, Ruthenen etc. ohne weiteres über den Haufen schießen kann.«139
3.Generell sind für proletarische Aufständische »ihre Verteidigungsmittel völlig unzureichend« und fehlen »militärische Kenntnisse und militärische Organisation bei den Mannschaften vollständig«.140 Nicht nur für den Wiener Aufstand 1849 ist es typisch, dass »die Volkspartei nach 8 Monaten revolutionärer Kämpfe keinen Militär von größeren Fähigkeiten hervorgebracht oder für sich gewonnen«141 hat.
Grundsätzlich liegt also der Schlüssel zu Sieg oder Niederlage der Insurrektion im militärisch-politischen Verhalten der Streitkräfte. Diese Erkenntnis bestätigt die schon am 15. September 1848 in der »Neuen Rheinischen Zeitung« zu lesende Meldung:
»Militärrevolte in Potsdam und Nauen. Der Konflikt zwischen Demokratie und Aristokratie ist im Schoß der Garde selbst ausgebrochen (…). Die Potsdamer Soldatenrevolte erspart uns wahrscheinlich eine Revolution.«142
Insbesondere der Badische Aufstand von 1849 zum Schutz der ersten deutschen demokratischen Reichsverfassung, der Paulskirchenverfassung, ist ein Musterbeispiel hinsichtlich der Rolle des Militärs:
»Der Aufstand in Baden kam unter den günstigsten Umständen zustande, in denen eine Insurrektion sich nur befinden kann. (…) Die Armee, die in andern Aufständen erst besiegt werden mußte, die Armee, von ihren adligen Offizieren mehr als irgendwo anders schikaniert, seit einem Jahr von der demokratischen Partei bearbeitet, seit kurzem durch die Einführung einer Art allgemeiner Wehrpflicht noch mehr mit rebellischen Elementen versetzt, die Armee stellte sich hier an die Spitze der Bewegung und trieb sie sogar weiter, als die bürgerlichen Leiter der Offenburger Versammlung wollten. Die Armee gerade war es, die in Rastatt und Karlsruhe die ›Bewegung‹ in eine Insurrektion verwandelte«.143
Dieses Problem der politischen Eroberung und Paralyse des Militärs, um einen möglichst unblutigen Revolutionsprozess zu ermöglichen, wird Engels bis kurz vor seinem Tod beschäftigen. Verzweifelt versucht er, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands entsprechende Lösungswege aufzuzeigen. Er stößt auf taube Ohren. Noch schlimmer: Seine Anregungen und Vorschläge werden in der Parteipresse zensiert, unterschlagen und abgelehnt.
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