Название: Nation, Europa, Christenheit
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783990810385
isbn:
4.Dass „christliche Werte“ wie „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“ die „europäischen Werte“ seien oder gar die „Seele Europas“, ist, mit Verlaub, das geistige Äquivalent zum Schlager. Es ist Moralschmalz. Die „Seele Europas“ kann überhaupt nur in der Emanzipation vom antiken asiatischen und afrikanischen Gedanken des Gottkaisertums bestehen. Das christliche Europa, das christliche Abendland formierte sich in der Trennung von weltlicher und geistlicher Macht. Es entstand eine säkulare Sphäre, in der Politik nicht lediglich als Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln betrieben, sondern als davon unterschiedener Zuständigkeitsbereich aufgefasst wurde. Die „Seele Europas“ besteht in der Gewaltenteilung von Thron und Altar. Freilich gelang diese Unterscheidung selten idealtypisch, immer wieder in der Geschichte versuchten beide Seiten, sich der jeweils anderen zu bemächtigen und sie sich zu unterwerfen. Und freilich gab es ein von der Religion weitgehend emanzipiertes Herrschertum auch in Griechenland und in Rom. Die Versuchung war allerdings eminent: Alexander der Große verscherzte sich in Baktrien die Sympathien seiner Gefolgsleute dadurch, dass er die Proskynese von ihnen verlangte. Auch die Geschichte der römischen Kaiser zeigt die verhängnisvolle Tendenz hin zur Selbstvergottung. Und wenn heute Kirchenfürsten mit „christlichen Werten“ Politik sanktionieren und Politiker sich wiederum durch „christliche Werte“ unangreifbar machen, entsteht eine Dynamik, die sich vom Prinzip des Gottkaisertums letztlich nur in Nuancen unterscheidet. Das abendländische Christentum ist der Garant der Unterscheidung von Thron und Altar, denn im Namen Christi ist allen Versuchen eines theokratischen Upgrades entschieden zu widersprechen: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Mt 22,21)
Das Framing ist die eine Seite, die Seite des Senders. Auf der anderen Seite stehen die Empfänger, und es stellt sich die Frage, warum das Framing so überaus erfolgreich wirkt. Die zwar schrumpfende, aber immer noch überwiegende Mehrheit der Bürger, die ja sonst durchaus zu vielerlei Kritik fähig ist, scheint im Zusammenhang mit der Migrationspolitik jede noch so absurde Aussage unreflektiert hinzunehmen, jede noch so bittere Pille bereitwillig zu schlucken.
Die Kritiker der Migrationspolitik schütteln konsterniert den Kopf, reden von „Verblendung“, „Blase“, „Schlafschafen“. Die geballte Macht der Medien mag einen Teil des Phänomens erklären, aber das ist noch nicht alles. Die Frage ist, warum das im ARD-Manual empfohlene Framing überhaupt funktioniert, warum die moralische Rahmung politischer Entscheidungen eine Entwicklung zur politischen Alternativlosigkeit ermöglichen konnte. Diese Frage ist nicht nur von Bedeutung für die Analyse der aktuellen politischen Großwetterlage, sondern für die Art und Weise der künftigen politischen Kommunikation überhaupt.
Fündig wird man bei Friedrich August von Hayek und seinem Theorem der „zwei Moralsysteme“6 (auch „Zwei-Welten-Theorem“ genannt). Hayek unterscheidet die persönliche Lebenswelt des sozialen Nahraums (die „Mikroordnung“) von der unpersönlichen Bezugswelt eines politischen und wirtschaftlichen Großraums (der „erweiterten Ordnung“). Das eine ist Familie, Verwandtschaft, Freundes- und Kollegenkreis, geprägt durch persönliche Beziehungen und Gemeinschaftsbildung, das andere Markt und Staat – und „zwischen Staaten gibt es keine Freundschaft, es gibt nur gemeinsame Interessen“, soll Charles de Gaulle so oder so ähnlich gesagt haben, und damit bringt er den Unterschied auf den Punkt.
Hayek drückt es so aus: „Der entscheidende Unterschied […] ist der, daß die kleine Gruppe in ihren Tätigkeiten sich von vereinbarten Zielen oder dem Willen der Angehörigen leiten lassen kann, während die erweiterte Ordnung […] zu einem in sich harmonierenden Gebilde dadurch wird, daß ihre Mitglieder bei der Verfolgung unterschiedlicher individueller Zwecke sich nach ähnlichen Verhaltensregeln richten.“7 („Ähnlich“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass die Verhaltensregeln der erweiterten Ordnung denen der kleinen Gruppe ähnlich sind, sondern dass in der erweiterten Ordnung einander ähnliche Verhaltensregeln für alle gelten, unabhängig davon, welche Interessen jeder Einzelne verfolgt.)
Den weit überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte haben sich Menschen im sozialen Nahraum bewegt. Der Großraum ist demgegenüber geschichtlich eine recht junge Entwicklung (Hayek verortet sein Entstehen mit der Entstehung des Handels8), aber auch individuell immer eine neue Erfahrung, da jeder Mensch vom sozialen Nahraum herkommt. Im sozialen Nahraum gelten andere Regeln als im Großraum. Der Nahraum wird als „warm“ und „persönlich“ empfunden, der Großraum als „kalt“ und „unpersönlich“. Im Nahraum kommt es auf die Tugenden persönlicher Beziehungen an: Vertrauen, Mitgefühl, Zuwendung, Verständnis etc. Im Großraum spielen diese Tugenden keine oder doch eine nur sehr untergeordnete Rolle, hier wird die Kommunikation rational, technisch, juristisch, abstrakt.
Hayeks Theorem lässt sich neurobiologisch durch die sogenannte Dunbar-Zahl belegen. Robin Dunbar wies eine Korrelation zwischen dem Aufbau des Gehirns von Säugetieren und der Zahl von Individuen nach, zu denen ein Individuum eine soziale Nahbeziehung eingehen kann. Bei Menschen liegt diese Zahl im Schnitt bei 150. „Diese Zahl erscheint regelmäßig in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Es ist die geschätzte Größe eines neolithischen Bauerndorfs, die Größe, ab der die Siedlungen der Hethiter aufgeteilt wurden, und die Größe militärischer Grundeinheiten seit den Tagen der alten Römer. Es ist die durchschnittliche Anzahl von Leuten, denen man Weihnachtskarten schickt, und oft die Größe von Abteilungen in modernen Konzernen.“9 Die Dunbar-Zahl bestätigt und quantifiziert die Mikroordnung in Hayeks „Zwei-Welten-Theorem“. Unser sozialer Nahraum erstreckt sich über etwa 150 Mitmenschen, mit denen wir emotional eng verbunden sind und entsprechend interagieren. Jenseits davon erstreckt sich der anonyme Großraum. Wir sind gezwungen, permanent zwischen beiden Räumen zu wechseln.
Hayek gelangt durch seine Beobachtungen zu einer eminent wichtigen Schlussfolgerung: Wer diese Räume nicht oder nur unzureichend voneinander zu unterscheiden vermag und versucht, die Regeln des einen im jeweils anderen anzuwenden, wird zerstörerisch in beiden wirken. Dabei besteht eine deutlich größere Neigung, die Regeln der Mikroordnung auf die erweiterte Ordnung zu übertragen, als umgekehrt – denn jeder Mensch wie auch die Menschheit insgesamt kommt von der Mikroordnung her. Darauf sind wir „geeicht“ und eingestellt, im Großraum finden wir uns dagegen viel schwerer zurecht. Hayek illustriert diese Neigung durch eine luzide Analyse der Begriffe „Gesellschaft“ und „sozial“.10 Ein Blick in die aktuellen politischen Diskussionen, wie sie in Tageszeitungen und im Internet geführt werden, offenbart die Größenordnung und die Wirkung der derzeitigen Vermischung von Nah- und Großraum. Permanent wird die große Welt aufs Format der kleinen Welt zurechtgestutzt.
Genau diese mangelnde Unterscheidung (oder auch bewusste Vermischung) ist aber der Grund für die Wirksamkeit des Framings. Moralische Begriffe sind Begriffe der Mikroordnung, der kleinen Gruppe. Neben der „Nächstenliebe“ und der „Barmherzigkeit“ werden „Empathie“, „(Mit-)Menschlichkeit“ und „Zuwendung“ aufgerufen (und das auch noch zu „Leidenden“, „Verfolgten“ oder „Flüchtenden“, wie Migranten fälschlicherweise pauschal bezeichnet werden), und wir springen unwillkürlich, automatisch darauf an: Es ist die Terminologie des sozialen Nahraums, der uns im Blut liegt, von dem wir СКАЧАТЬ