Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ Text. Sie leben ihr Dasein als Automaten und ähneln den fiktiven Figuren Bergsons, die ihr Gedächtnis vollkommen liquidiert haben.

      Es scheint nicht, daß Baudelaire dem Spiel ergeben gewesen ist, wiewohl er für die, die ihm verfallen sind, Worte der Sympathie, ja der Huldigung gefunden hat1178. Das Motiv, das er in dem Nachtstück »Le jeu« behandelt hat, war in seiner Ansicht von der Moderne vorgesehen. Es zu schreiben, bildete einen Teil seiner Aufgabe. Das Bild des Spielers wurde bei Baudelaire das eigentlich moderne Komplement zum archaischen Bild des Fechters. Der eine ist ihm eine heroische Figur wie der andere. Mit Baudelaires Augen hat Börne gesehen, als er geschrieben hat: »Wenn man alle die Kraft und Leidenschaft …, die jährlich in Europa an Spieltischen vergeudet werden … zusammensparte – würde es ausreichen, ein römisches Volk und eine römische Geschichte daraus zu bilden? Aber das ist es eben! Weil jeder Mensch als Römer geboren wird, sucht ihn die bürgerliche Gesellschaft zu entrömern, und darum sind Hasard- und Gesellschaftsspiele, Romane, italienische Opern und elegante Zeitungen … eingeführt.«1179 Im Bürgertum ist das Hasardspiel erst mit dem neunzehnten Jahrhundert heimisch geworden; im achtzehnten spielte nur der Adel. Es war durch die napoleonischen Heere verbreitet worden und gehörte nun »zum Schauspiele des mondänen Lebens und der Tausende ungeregelter Existenzen, die in den Souterrains einer großen Stadt zuhause sind« – dem Schauspiel, in dem Baudelaire das Heroische sehen wollte, »wie es unsere Epoche zu eigen hat«1180.

      Will man den Hasard nicht sowohl in technischer als in psychologischer Hinsicht ins Auge fassen, so erscheint Baudelaires Konzeption noch bedeutungsvoller. Der Spieler geht auf Gewinn aus, das ist einsichtig. Doch wird man sein Bestreben, zu gewinnen und Geld zu machen, nicht einen Wunsch im eigentlichen Sinne des Wortes nennen wollen. Vielleicht erfüllt ihn im Inneren Gier, vielleicht eine finstere Entschlossenheit. Jedenfalls ist er in einer Verfassung, in der er nicht viel Aufhebens von der Erfahrung machen kann1181. Der Wunsch seinerseits gehört dagegen den Ordnungen der Erfahrung an. »Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter in Fülle«, heißt es bei Goethe. Je früher im Leben man einen Wunsch tut, desto größere Aussicht hat er, erfüllt zu werden. Je weiter ein Wunsch in die Ferne der Zeit ausgreift, desto mehr läßt sich für seine Erfüllung hoffen. Was aber in die Ferne der Zeit zurückgeleitet, ist die Erfahrung, die sie erfüllt und gliedert. Darum ist der erfüllte Wunsch die Krone, welche der Erfahrung beschieden ist. In der Symbolik der Völker kann die Ferne des Raumes für die Ferne der Zeiten eintreten; daher die Sternschnuppe, welche in die unendliche Ferne des Raumes stürzt, zum Symbol des erfüllten Wunsches geworden ist. Die Elfenbeinkugel, die da ins nächste Fach rollt, die nächste Karte, die da zuoberst liegt, sind der wahre Gegensatz zu der Sternschnuppe. Die Zeit, die in dem Augenblick enthalten ist, da das Licht der Sternschnuppe für einen Menschen aufblitzt, ist vom Stoffe derer, die von Joubert mit der ihm eigenen Sicherheit umrissen worden ist. »Zeit«, sagt er, »wird auch in der Ewigkeit vorgefunden; aber es ist nicht die irdische Zeit, die weltliche … Diese Zeit zerstört nicht, sie vollendet nur.«1182 Sie ist das Gegenstück zu der höllischen, in der sich die Existenz derer abspielt, die nichts, was sie in Angriff genommen haben, vollenden dürfen. Die Verrufenheit des Hasardspiels hängt in der Tat daran, daß der Spieler selbst Hand ans Werk legt. (Ein unverbesserlicher Klient der Lotterie wird nicht derselben Ächtung verfallen wie der Hasardspieler in einem engeren Sinn.)

      Das Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels (wie der Lohnarbeit). Es hat daher seinen genauen Sinn, wenn bei Baudelaire der Sekundenzeiger – la Seconde – als Partner des Spielers auftritt.

      Souviens-toi que le Temps est un joueur avide

       Qui gagne sans tricher, à tout coup! c’est la loi. 1183

      In einem andern Text vertritt die Stelle der hier gedachten Sekunde der Satan selbst1184. Seinem Revier gehört ohne Zweifel auch die schweigsame Höhle an, in welche das Gedicht »Le jeu« die verweist, die dem Hasardspiel verfallen sind.

      Voilà le noir tableau qu’en un rêve nocturne

      Je vis se dérouler sous mon œil clairvoyant.

      Moi-même, dans un coin de l’antre taciturne,

      Je me vis accoudé, froid, muet, enviant,

       Enviant de ces gens la passion tenace. 1185

      Der Dichter nimmt nicht am Spiele teil. Er steht in seiner Ecke; nicht glücklicher als sie, die Spielenden. Er ist auch ein um seine Erfahrung betrogener Mann, ein Moderner. Nur schlägt er das Rauschgift aus, mit dem die Spielenden das Bewußtsein zu übertäuben suchen, das sie dem Gang des Sekundenzeigers ausgeliefert hat1186.

      Et mon cœur s’effraya d’envier maint pauvre homme

      Courant avec ferveur à l’abîme béant,

      Et qui, soûl de son sang, préférerait en somme

       La douleur à la mort et l’enfer au néant! 1187

      Baudelaire macht in diesen letzten Versen die Ungeduld zum Substrat der Spielwut. Er hat es in reinster Beschaffenheit in sich vorgefunden. Sein Jähzorn besaß die Ausdruckskraft der Iracundia des Giotto in Padua.

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      Es ist, wenn man Bergson glauben will, die Vergegenwärtigung der durée, die dem Menschen die Obsession der Zeit von der Seele nimmt. Proust hält es mit diesem Glauben und hat aus ihm die Exerzitien hervorgebildet, in denen er lebenslang darauf ausgewesen ist, Verflossenes, gesättigt mit allen Reminiszenzen, die während seines Verweilens im Unbewußten in seine Poren gedrungen waren, ans Licht zu heben. Er war ein unvergleichlicher Leser der »Fleurs du mal«; denn er hat Verwandtes in ihnen am Werk gespürt. Es gibt keine Vertrautheit mit Baudelaire, die Prousts Erfahrung an ihm nicht mit umfaßt. »Die Zeit«, sagt Proust, »ist bei Baudelaire auf eine befremdende Art zerfällt; nur wenige seltene Tage tun sich auf; es sind bedeutende. So versteht man, warum Wendungen wie ›wenn eines Abends‹ und ähnliche bei ihm häufig sind.«1188 Diese bedeutenden Tage sind Tage der vollendenden Zeit, mit Joubert zu sprechen. Es sind Tage des Eingedenkens. Sie sind von keinem Erlebnis gezeichnet. Sie stehen nicht im Verbande der übrigen, heben sich vielmehr aus der Zeit heraus. Was ihren Inhalt ausmacht, hat Baudelaire im Begriff der correspondances festgehalten. Er steht unvermittelt neben dem der ›modernen Schönheit‹.

      Das gelehrte Schrifttum über die correspondances (sie sind Gemeingut der Mystiker; Baudelaire ist bei Fourier auf sie gestoßen) beiseiteschiebend, macht Proust darum nicht mehr Aufhebens von den artistischen Variationen über den Tatbestand, die von den Synästhesien bestritten werden. Wesentlich ist, daß die correspondances einen Begriff der Erfahrung festhalten, der kultische Elemente in sich schließt. Nur indem er sich diese Elemente zu eigen machte, konnte Baudelaire voll ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war. Nur so konnte er ihn als die ihm allein zugedachte Herausforderung erkennen, die er in den »Fleurs du mal« aufgenommen hat. Wenn es eine geheime Architektur dieses Buches, der viele Spekulationen gewidmet worden sind, wirklich gibt, so dürfte der Gedichtkreis, der den Band eröffnet, einem unwiederbringlich Verlorenen gewidmet sein. In diesen Kreis fallen zwei Sonette, die in ihren Motiven identisch sind. Das erste, überschrieben »Correspondances«, beginnt:

      La Nature est un temple où de vivants piliers

      Laissent parfois sortir de confuses paroles;

      L’homme y passe à travers des forêts de symboles

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