Название: Evas Geschichte
Автор: Eva Schloss
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783765571992
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Sein Wunsch, uns so bald wie möglich nachkommen zu lassen, wurde noch drängender, als Heinz eines Nachmittags mit blutüberströmtem Gesicht von der Schule nach Hause kam. Seine Klassenkameraden hatten ihn gehänselt und schließlich brutal zusammengeschlagen, nur weil er Jude war. Das Gesetz der Straße nahm immer mehr überhand, und wir wussten uns nicht dagegen zu wehren.
Nach diesem Vorfall einigten sich meine Eltern, zunächst einmal Heinz zu Papi nach Brabant zu schicken. Mutti und ich blieben in Wien, um so viel wie möglich von unserem Besitz zu verkaufen. Mutti wusste, dass man uns nicht erlauben würde, viel Geld aus Österreich mitzunehmen; also beschloss sie, mich für die nächsten zwei Jahre mit Kleidung auszustatten. Wir gingen bei Bitman, einem großen Kinderbekleidungsladen im Zentrum Wiens, einkaufen. Sie gab eine Menge Geld aus, und die meisten Sachen gefielen mir auch. Irgendwann landeten wir schließlich in der Mantelabteilung.
»Wir werden in Kürze nach Brüssel übersiedeln«, vertraute Mutti der diensteifrigen Verkäuferin an, »und ich suche für meine Tochter einen hübschen Mantel und einen Hut.«
»Da habe ich etwas für Sie«, sagte die Verkäuferin und kam zu meinem Entsetzen mit einem leuchtend orangefarbenen Wollmantel zurück und einem Schottenhut, der farblich zum Kragen des Mantels passte. Ich fand alles schrecklich.
»Diese Sachen trage ich auf keinen Fall!«, protestierte ich.
»Natürlich wirst du«, erwiderte Mutti, »alle kleinen Mädchen in Belgien tragen so hübsche Mäntel.«
Sie sah die Verkäuferin an, die zustimmend nickte. Ich hoffte nur, dass mir der Mantel nicht passen würde.
»Ein bisschen zu groß«, meinte Mutti. »Aber das macht nichts. Da wächst du noch hinein.«
Trotz meiner lautstarken Einwände kaufte Mutti den Mantel und ich beschloss im Stillen, dass nicht einmal Mutti mich dazu bringen würde, dieses Ding anzuziehen.
Als wir an diesem Abend nach Hause kamen, lag im Postkasten ein Brief von Papi, in dem er uns aufforderte, zu ihm nach Breda in Brabant zu kommen. Eine Woche später, im Juni 1938, verließen wir Österreich für immer und zogen zu Papi und Heinz. Untergebracht waren wir als Pensionsgäste in einem Privathaus.
Breda, eine kleine Provinzstadt im Süden Hollands, liegt in der Nähe der belgischen Grenze. Das Leben hier gestaltete sich vollkommen anders als in der Großstadt Wien. Mir kam es vor wie Ferien auf dem Land. Die vergangenen Wochen hatten uns alle ziemlich mitgenommen. Jetzt waren wir wenigstens wieder zusammen und weit weg von der bedrohlichen Atmosphäre Wiens. Im Unterschied zu den Österreichern waren die Holländer häusliche, freundliche Menschen, bei denen wir uns willkommen fühlten.
In Holland schien jeder ein Fahrrad zu besitzen, und an einem sonnigen Sonntag mieteten wir uns vier Fahrräder, um damit ins Grüne zu fahren. Wir picknickten auf einer Wiese. Es war herrlich warm und friedlich. Während ich im Gras lag und die Wolken beobachtete, dachte ich, wie gut ich es hatte, dass ich am nächsten Tag nicht zur Schule gehen musste. Wenn ich in Brüssel zur Schule ging, würde der Unterricht auf Französisch abgehalten, so viel war mir klar, aber wie ich damit zurechtkommen sollte, stand in den Sternen.
Die Gnadenfrist währte leider nicht sehr lange. Ende Juli hatten meine Eltern Heinz und mich an einer Schule angemeldet. Mutti, Heinz und ich zogen in eine Pension am Stadtrand von Brüssel, und Papi versprach, uns jedes Wochenende zu besuchen. Beinahe über Nacht waren wir Flüchtlinge geworden.
Der Eigentümer der Pension war ein Belgier, Monsieur le Blanc, der eine Französin, eine Witwe mit einem Sohn, geheiratet hatte. Jacky, so hieß der Junge, war neun, genauso alt wie ich, und wir wurden schnell Freunde. Durch ihn habe ich gelernt, dass man Freunde haben kann, ohne die Sprache des anderen zu verstehen. Wir spielten miteinander, wurden gute Kameraden und ohne es zu merken, lernte ich immer mehr Französisch.
Unsere Familie war in zwei Zimmern untergebracht. Heinz und ich schliefen in einem, und Mutti teilte ihr kleines Schlafzimmer an den Wochenenden mit Papi. Die Mahlzeiten nahmen wir in einem großen Speisezimmer zusammen mit anderen Familien ein; deutsche und tschechische Juden in der gleichen misslichen Lage wie wir. In einer Ecke des Speisezimmers saß eine ältliche Französin, eine Witwe, und in der anderen ein Junggeselle mittleren Alters, der lange Zeit als Verwaltungsbeamter in Belgisch-Kongo gedient hatte und nun pensioniert war; ein düsterer Kerl, vor dem ich große Angst hatte.
Als er eines Tages aus dem Haus gegangen war, schlichen Jacky und ich in sein Zimmer. An einer Wand hing eine Sammlung gefährlich aussehender Waffen, Speere und Lanzen. Neugierig bestaunten wir alles, als wir ihn überraschend zurückkommen hörten. Aus Jux, um ihn zu erschrecken, sprangen wir auf und schrien. Ohne zu zögern, riss er einen kongolesischen Speer von der Wand und stürmte damit auf uns zu. Von panischer Angst erfüllt, rannten wir aus dem Zimmer und gingen ihm fortan möglichst aus dem Weg!
An manchen Nachmittagen begleitete ich Mutti zum Zentrum für Flüchtlinge. Dort konnte man Leute kennenlernen und bekam Ratschläge und praktische Hilfe bei allen möglichen Problemen: wo Erwachsene Französisch lernen konnten, wie man sich polizeilich meldete, wie man finanzielle Unterstützung bekam usw. Das Ausfüllen von Formularen wollte schier kein Ende nehmen. Es war ein Transitzentrum für viele Flüchtlinge, die nach England oder Amerika weiterreisen wollten, und eines Tages kamen auch meine Großeltern an und blieben ein paar Tage in unserer Pension, ehe sie nach England weiterfuhren.
Am Abend konnten wir uns nur in unseren Zimmern aufhalten. Ich lag meist auf meinem Bett und sah Heinz betrübt dabei zu, wie er gewissenhaft seine Latein- und Französischhausaufgaben machte. Für mich hatte er keine Zeit. Manchmal ging ich daher hinunter, um mit Jacky zu spielen. Im Hof gab es eine Truhe voll alter Kleider von seiner Mutter, die wir uns überzogen und »Erwachsene« spielten, bis Mutti mich ins Bett schickte.
Auch wenn wir in möblierten Zimmern wohnen mussten, versuchte Mutti, das Leben für mich so normal wie möglich zu gestalten, und schickte mich auf die Schule im Ort. Aber wie sollte das für mich normal sein? Acht Jahre lang hatte ich nur Deutsch gehört und gesprochen, und plötzlich fand der ganze Unterricht nur noch auf Französisch statt. Ich war völlig verzweifelt. Ich war nicht einmal in der Lage, die einfachsten Dinge zu verstehen. Meine Mitschüler versuchten mir zu helfen, gaben aber bald auf, als sie merkten, dass ich nicht ein einziges Wort verstanden hatte. Der Unterricht lief ganz anders ab als in meiner früheren Schule, in der wir einfache Zahlenreihen auf dem Papier zusammengezählt hatten. Hier schienen die Kinder alles im Kopf auszurechnen. Wenn die Lehrerin das Einmaleins abfragte, wussten die meisten sofort die Antwort. Ich dagegen saß nur da und kam mir dumm und jämmerlich vor.
Die hübsche junge Lehrerin tat alles, um mich zu ermutigen, aber ich war todunglücklich. Nach ungefähr einem Monat musste ich mein erstes Diktat auf Französisch schreiben. Am nächsten Tag bekamen wir unsere korrigierten Hefte zurück, und jeder musste die Anzahl seiner Fehler vor der ganzen Klasse ansagen. Meine ganze Seite war rot; Fehler hatte ich so viele, wie Worte auf dem Blatt Papier standen. Ich schämte mich so, dass ich in Tränen aufgelöst zu Mutti nach Hause rannte.
Mutti beschloss, dass ich jeden Tag zwanzig Wörter lernen musste: Sie nannte mir die französischen Wörter für mir vertraute Gegenstände, und ich musste ihr nachsprechen. Dann schrieb ich sie nieder, um sie auswendig zu lernen. Es waren so viele neue Begriffe, dass ich am Freitag nicht mehr wusste, was ich am Montag gelernt hatte. Mutti war so enttäuscht von mir (schließlich hatte sie genug andere Sorgen), dass ihr schon mal die Hand ausrutschte. Am Ende solcher Unterrichtsstunden flossen dann nur noch mehr Tränen.
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