Ein Buch für Keinen. Stefan Gruber
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Название: Ein Buch für Keinen

Автор: Stefan Gruber

Издательство: Readbox publishing GmbH

Жанр: Афоризмы и цитаты

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isbn: 9783347043282

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СКАЧАТЬ nichts wissen konnte, nannte diese Phase im Leben einer Kultur den »ethischen Sozialismus«. Auf die tiefere Bedeutung dieses Begriffs können wir erst später eingehen. Vorerst ist es nur wichtig zu wissen, dass im Moment des kulturellen Abschlusses der ethische Sozialismus Einzug hält, später geht er seinen Weg über pazifistische, spirituelle Bewegungen und Weltverbrüderungsideologien und erstarrt und dogmatisiert schließlich in der sogenannten »Zweiten Religiosität«.

      Je stärker demokratische Strukturen ausgebaut sind, desto eher kulminiert der demokratische Wettkampf der Interessensvertretung in der Erkenntnis, dass wir alle Opfer sind, die ihr Leiden weder dem Leben an sich noch dem kapitalistischen System zu verdanken haben, sondern den »Umständen«, und die Umstände bleiben stets in der sozialen Sphäre, um die staatliche Ordnung nicht zu gefährden. Nicht der Kapitalismus beutet uns aus, sondern der böse Spekulant. Nicht der Kapitalismus senkt unsere Löhne, sondern der gierige Unternehmer. Nicht der Kapitalismus hindert Menschen aus der Unterschicht am Aufstieg, sondern priviligierte Menschen. Nicht der Kapitalismus schafft ein Prekariat, sondern die fehlende Bildung.1 Nicht der Kapitalismus schafft Radikalismen, sondern die fehlende Toleranz. Nicht der Kapitalismus schafft Kriminalität, sondern die fehlende Förderung und Anerkennung. Solange wir einander lieben, fällt niemand durch den Rost und der Kapitalismus kann uns nichts anhaben. Und je mehr diese Umstände zum Hauptfeind eines wartenden Utopias ausgemacht werden, desto penibler wird die Redefreiheit eingeschränkt, um Gedanken, die an die Wurzel des Systems gehen, von vornherein auszumerzen. Nicht die Philosophie, die Geschichtswissenschaft oder die Ökonomie kann das Heilmittel sein – dafür reicht die Bildung der staatlich protegierten Intellektuellen-Schicht nicht aus –, sondern in der Sprache wird es gefunden. Je netter wir zueinander sind, desto eher werden sich die Klassenunterschiede auflösen.

      Im Abendland kennt man diesen Diskurs unter dem Stichwort »Antidiskriminierung« und »politische Korrektheit«: Jeder ist Opfer der Umstände. Jedem widerfährt Ungerechtigkeit – nicht, weil diese systemisch determiniert ist, sondern weil der Mensch eine vorurteilsbeladene Bestie ist. Jeder – außer die (männliche, weiße, heterosexuelle) Mittelschicht und der Mittelstand als subjektiv empfundene Priviligierte – wird diskriminiert. Mit diesem provokanten Fingerzeig auf die gutbürgerliche Mitte kann man die Benachteiligten eine Zeit lang ruhigstellen, ohne ihnen wirklich etwas zu geben; und auf diesem Feld der intellektuellen Schmalspurdebatten findet der Diskurs dann auch statt, und zwar umso fanatischer, je mehr der Kapitalismus ins Straucheln kommt. Je höher das Szepter der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit gehalten wird, desto näher rücken die Geburtswehen des Cäsarismus. Bis dahin aber ist die selbsternannte intellektuelle Schicht das Zentrum der öffentlichen Debatte und dort bemitleidet man sich und jene, die man zu vertreten vorgibt, gemeinsam für die »Umstände«.

      Die innere Logik, der diese Entwicklung folgt, basiert auf dem Gefühl der Machtlosigkeit der Massen und der Politik gegenüber einem selbstlaufenden, unaufhaltbaren System und einer immensen intranationalen und internationalen Komplexität, die wie ein Damoklesschwert über der Kultur schwebt. Unbewusst ahnt jeder, dass er Sklave des Systems ist und dass das Rütteln an den Fundamenten des Kapitalismus oder der internationalen, ökonomischen oder geopolitischen Vernetzungen mit einem horrenden Umbruch einhergehen würde, der mit allen Mitteln unterbunden werden muss. Nichtlineare, autopoietische, komplexe Systeme kann man eben nicht an der Wurzel verändern, ohne sie zu zerstören. Man nimmt sie entweder als gegeben hin oder geht mit ihnen unter. Was der Mensch der Frühzeit in der Natur sah – ein gegebenes, unveränderliches System, mit dem man unhinterfragt lebt –, das sieht der Demokrat im Markt. Deshalb verlagert sich der Diskurs der sozialen Problemlösung – ähnlich wie die rituellen Gebräuche zur Beeinflussung von Mutter Natur in der Frühzeit – auf die letzten veränderlichen Dinge: Die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, sprechen und Gruppen bilden. Vor allem Letzteres wird zur niemals endenden Spielwiese ideologischer Menschheitsoptimierer, da die Regeln der Gruppendynamik, die eine Funktion der Ähnlichkeit sind (ähnliche Interessen, ähnlicher Charakter, ähnliche Schicht, ähnliche Kultur etc.) tief in der DNA und letztlich in den Gehirnsynapsen verankert sind, wo entschieden wird, wer zur Gruppe gehört oder von ihr ausgeschlossen wird. Deshalb diskriminiert der Mensch, solange der genetische Code unangetastet bleibt. Wir haben es hier also mit religiösen Ersatzhandlungen zu tun: Gott ist animistisch und bezieht sich auf die Umwelt als solche. Und diese lässt sich manipulieren durch ein tugendhaftes Leben des Gläubigen. Das ist eine Regression in Jean Piagets »präoperationale Phase«, die im Alter von 2 bis 7 Jahren durchlaufen wird und von einem starken Egozentrismus und magischem Denken geprägt ist. Werden die Denk- und Sprachgebote Gottes eingehalten, hat das direkte (positive) Auswirkungen auf die Umwelt und nichts kann einem etwas anhaben. Der Teufel dagegen ist nicht das System, in das man eingebunden ist, sondern der weiße, heterosexuelle, »rechtsradikale« Mann, der einen vom rechten (linksliberalen1) Weg abbringen will. Fremden und Angehörigen von Minderheiten wird in dieser animistischen Welt keine eigenständige Persönlichkeit zugestanden, da man sie ebenso verniedlicht und jeglicher Verantwortung beraubt, wie man sich auch selbst infantilisiert. Diese Unschuld kann nur von außen – vom weißen Teufel – besudelt werden und auf ihn projiziert man alle Probleme, die trotz Einhaltung des Tugend-Kanons auftreten; oder wie Watzlawick schreibt:

      »Wie bereits erwähnt, impliziert der Begriff der endgültigen, allgemeinverpflichtenden Welterklärung ja, dass neben ihr keine anderen Erklärungen bestehen können oder, genauer gesagt, bestehen dürfen. Denn sonst befänden wir uns ja noch immer in einem Universum, in dem letzthin alles wahr sein könnte, auch sein Gegenteil. Wo die Ideologie sich rückbezüglich auf sich selbst zu beziehen versucht, um ihre Wahrheit aus sich selbst heraus zu beweisen, entsteht ein ›blinder Fleck‹ … Diese örtliche Blindheit, die für sich selbst blind macht, ermöglicht es dem Ideologiegläubigen, an die Wahrheit und Geschlossenheit der Lehre zu glauben. Wenn die ›soziale Gleichung‹ dann aber doch nicht aufgeht, so ist dies offensichtlich nicht ein Defekt der reinen Lehre, sondern es muss draußen, irgendwo, noch ein unentdeckter, heimtückischer Feind lauern, der den Anbruch des Millenniums sabotiert ….«1

      Und dieser Feind ist natürlich derjenige, der tiefer in Kaninchenbau blicken will, auch wenn er das, was er sehen könnte, ohnehin nicht erklären darf, weil ihm die Worte dafür verboten wurden. Tut er es doch, verliert er nicht selten Ansehen und Beruf und wird von der staatlichen Intelligenzija, welche bis dahin noch über das Instrument der Massenmedien die Deutungshoheit besitzt, aus der Gruppe der moralisch integren Menschen ausgeschlossen. Diese »Jeder gegen jeden«-Ideologie, die das Volk spaltet und auseinanderdividiert in Inländer gegen Ausländer, Rechte gegen Linke, Mann gegen Frau, Reaktionäre gegen Progressive, Gläubige gegen Andersgläubige, wird vom Staat sanft befeuert und mit allen Mitteln auf einem möglichst bürgerkriegslosen Niveau aufrechterhalten: Das ist die Maxime des Divide et impera – teile und herrsche. Solange die Menschen aufeinander losgehen, verbünden sie sich in ökonomisch schlechteren Zeiten nicht gegen Staat. Sobald sich der politisch korrekte Diskurs in immer absurderen Ausdifferenzierungen erschöpft (60 verschiedene Geschlechter, Mikroagressionen etc.) und das ewige Spiel aus demokratischer Rede und Gegenrede, inmitten ökonomischer Wirren, bestenfalls Langeweile hervorruft, schlimmstenfalls zu Wut und Hass führt, beginnt das gemeine Fußvolk aufzubegehren und sich ein allerletztes Mal zu politisieren. Zu diesem Zeitpunkt hat der Kapitalismus die Stände ausgedünnt. Die Mittelschicht erodiert und mit dem Untergang des eher rechtsorientierten2 Bürgertums als Netto-Steuerzahler fehlt der kapitalistischen Linken (Linksliberale) die Finanzierungsbasis für ihre Utopien. Beide sinken herab zum Vierten Stand: der formlosen Masse der Weltstädte. Die Welt teilt sich auf in Wohlhabende und den Pöbel und zur Organisation dieser zwei Stände bedarf es keiner Demokratie mehr, ja sie wird darüber hinaus zur Verwaltung der immens angewachsenen Komplexität nach und nach als hinderlich angesehen. Es ist die Ära der Populisten als Vorläufer der daraus selektierten Cäsaren, die ihren Aufstieg der chaotischen Rückabwicklung des Kapitalismus verdanken. Das Zeitalter des Pragmatismus im Alltagsleben beginnt, die kleinkrämerischen demokratischen Diskussionen um des Kaisers Bart werden in den Hintergrund gedrängt und das moralische Bonmot der Intellektuellen wird von der groben, lauten Sprache des Pöbels übertönt. Angesichts des pragmatischen Gestaltungs- und Machtwillens der Cäsaren wird Politik für den Alltagsmenschen СКАЧАТЬ