Название: Wem gehört die Zukunft?
Автор: Jaron Lanier
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Социальная психология
isbn: 9783455851137
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Glockenkurven hin oder her
Starsysteme entstehen in einer Gesellschaft dann, wenn es an wirksamen Sortierprozessen mangelt. Wenn es fünf Wettbewerbe für Stars gibt, die jeweils nur Platz für fünf Stars bieten, dann kann es insgesamt nur fünfundzwanzig Stars geben.
In einem Starsystem werden die Besten extrem belohnt, während fast alle anderen – und das ist in unserer Zeit eine stets wachsende Anzahl von Konkurrenten aus allen Teilen der Welt – in die Armut gedrängt werden (aufgrund des Wettbewerbs oder auch aufgrund der Automatisierung).
Für die Entstehung einer Glockenkurve muss es eine unendliche Vielfalt von Pfaden oder Sortiervorgängen geben, die zum Erfolg führen. Das heißt, dass es viele Wege geben muss, um ein Star zu werden.
Folgt man wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern, kann eine bestimmte Person einen wirtschaftlichen Vorteil haben, weil sie sich an einem bestimmten Ort befindet oder Zugang zu einer wertvollen Information hat. Im Zeitalter vor der Cloud konnte ein Bäcker vor Ort frischeres Brot liefern und war gegenüber einer entfernten Brotfabrik im Vorteil, auch wenn deren Brot billiger war, und ein Angestellter der örtlichen Bankfiliale konnte besser als ein Analyst in der Ferne erkennen, wer seinen Kredit zurückzahlen würde und wer nicht. Jede Person, die in einer Marktwirtschaft Erfolg hatte, war ein lokaler Star.
Digitale Netzwerke wurden bislang vor allem dafür eingesetzt, diese lokalen Vorteile zu reduzieren, doch dieser Trend wird zu einer Implosion der Wirtschaft führen, wenn wir nichts daran ändern. Auf die Gründe gehe ich später noch ein, einstweilen möchte ich ein Szenario betrachten, das noch in diesem Jahrhundert gut möglich wäre: Wenn ein Roboter eines Tages einen anderen Roboter zu sehr niedrigen Kosten bauen oder an einem 3D-Drucker ausdrucken kann und dieser Roboter frisches Brot direkt in Ihrer Küche oder am Strand backen kann, dann müssen sowohl die Brotfabrik als auch der lokale Bäcker erleben, wie sich die Wege zum Erfolg drastisch reduzieren – eine Entwicklung, die in der Musikindustrie bereits stattgefunden hat. Brotrezepte für den Roboter würden im Netz wie heute Musikdateien getauscht. Den wirtschaftlichen Vorteil hätte ein ferner, riesiger Computer, der alle ausspionieren würde, die Brot essen, um sie mit Werbung zu bombardieren oder ihnen Kredite anzubieten. Brotesser könnten richtig viel Geld sparen, das stimmt, aber dieser finanzielle Vorteil wäre durch die beschränkten Aussichten mehr als gemindert.
Starsysteme hungern sich aus – Glockenkurven erneuern sich selbst
Ein hypereffizienter Markt, der optimiert wurde, um Starsysteme hervorzubringen, hat ein fatales Problem, denn bei diesem Markt wird es keine ausreichende Mittelschicht geben, die eine echte Marktdynamik unterstützt. Eine Marktwirtschaft kann nicht gedeihen, wenn es den normalen Menschen nicht gutgeht. Wir brauchen gewiss kein neues »Gilded Age«, kein »vergoldetes Zeitalter«, wie Mark Twain es spöttisch nannte. Gold schwimmt nicht. Es braucht eine Unterlage. Fabriken benötigen eine Vielzahl von Kunden. Banken sind auf zahlreiche vertrauenswürdige Kreditnehmer angewiesen.
Selbst wenn Fabriken und Banken eines Tages überflüssig werden sollten – wozu es wahrscheinlich noch in diesem Jahrhundert kommen wird –, gilt immer noch das ursprüngliche Prinzip. Das ist eine ewige Wahrheit, kein Artefakt des digitalen Zeitalters.
Auch die Reichen profitierten im vergangenen Jahrhundert davon, dass es eine funktionierende Mittelschicht gab. So konnten sie mehr Vermögen anhäufen, als es bei einer absoluten Konzentration des Reichtums möglich gewesen wäre. Eine breite wirtschaftliche Expansion ist immer lukrativer als das »The winner takes it all«-Prinzip. Manche Ultra-Reiche äußern gelegentlich Zweifel, aber selbst aus der elitärsten Perspektive gilt der Grundsatz, besser einen breiten Wohlstand zu fördern, anstatt ihn aufzuzehren, bis nichts mehr übrig bleibt. Henry Ford beispielsweise achtete darauf, dass seine ersten massengefertigten Autos so günstig waren, dass auch seine Fabrikarbeiter sie sich leisten konnten. Dieses Gleichgewicht schafft wirtschaftliches Wachstum und damit die Möglichkeit für weiteren Reichtum.
Eine künstliche Glockenkurve, die aus Deichen besteht
Vor dem Aufkommen digitaler Netzwerke wurden in Zeiten technischer Neuerungen oft Starsysteme begünstigt. Beim Bau der Eisenbahn waren es die Eisenbahnbarone, beim Öl-Boom Ölbarone, die die Ölfelder besaßen. Doch die digitalen Netzwerke müssen dieses Muster nicht übernehmen.
Bei vielen vorangegangenen wirtschaftlichen und technischen Revolutionen gab es leider keine Alternative. Man musste sich mit Situationen abfinden, die Ergebnisse nach dem Starsystem hervorbrachten. Das Kapital verhielt sich nun einmal wie eine Flüssigkeit und konnte unter diesen Umständen nicht dazu gebracht werden, sich in einer Mitte anzuhäufen. Um die Auswirkungen des Starsystems zu mildern, entstanden im Lauf der Zeit verschiedene »Deiche«, die diese ungünstige Strömungsmechanik ausgleichen und die Mittelschicht schützen sollten.
Deiche sind breite, nicht allzu hohe Begrenzungen, die den natürlichen Fluss eines Gewässers zurückhalten sollen, um etwas Wertvolles zu schützen. Eine Anhöhe mit abgestuften Deichen, die sich inmitten der Ökonomie erhebt, kann man sich wie die Reisterrassen in Südostasien vorstellen. So ein Berg, der aus dem Meer der Ökonomie herausragt, schafft eine wohlhabende Insel im Sturm des Kapitals.
Eine Ad-hoc-Erhebung aus Deichen, ähnlich wie beim Terrassenanbau, hebt die Mittelschicht aus dem Fluss des Kapitals, das sonst Extremen zuneigen und etwa einen langen Ausläufer der Armut schaffen würde (der Ozean im Bild links) sowie eine Spitze des Reichtums für die Elite (der Wasserfall/Geysir in der oberen rechten Ecke). Eine Demokratie ist darauf angewiesen, dass der Berg den Geysir übertrifft. (Zeichnung des Autors)
Deiche für die Mittelschicht haben viele Formen. Die meisten Industrieländer haben sich für Deiche auf staatlicher Grundlage entschieden, allerdings ist die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in den meisten Ländern durch die staatlichen Sparmaßnahmen bedroht, die zur Bewältigung der 2008 einsetzenden Finanzkrise ergriffen wurden. Einige Deiche waren auch nur pseudo-staatlich. So wurde etwa im 20. Jahrhundert die Mittelschicht in den USA durch steuerliche Vergünstigungen ermuntert, selbst in Eigenheime und damals konservative Anlagen wie eine individuelle Altersvorsorge zu investieren.
Auch bestimmte Berufsgruppen haben ihre Deiche: akademische Festanstellungen, die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, Taxi-Lizenzen, Genehmigungen für Kosmetikstudios, Urheberrechte, Patente und so weiter. Zur Absicherung der Mittelschicht entstanden auch eigene Branchen, etwa die Versicherer.
Das alles war natürlich nicht perfekt. Für sich genommen genügte keine dieser Maßnahmen. Ein erfolgreiches Leben in der Mittelschicht stützte sich normalerweise auf mehr als eine Absicherung. Doch ohne diese Ausnahmen im reißenden Strom des Kapitals hätte der Kapitalismus nicht gedeihen können.
Das unsinnige Ideal eines vollkommenen Marktes
Aufgrund der historischen Situation, in der dieses Buch verfasst wird, muss ich auf etwas Offensichtliches hinweisen. Zukünftigen Lesern in vernünftigeren Zeiten wird dies hoffentlich als unnötige Abschweifung erscheinen. (Ja, ich bin ein unverbesserlicher Optimist!)
Derzeit gibt es eine ziemlich verrückte und deprimierende globale Debatte, die Regierungen gegen Märkte ausspielt oder Politik gegen Geld. Sollten in Europa finanzielle Überlegungen СКАЧАТЬ