Konrad P. Liessmann. Marion Fugléwicz-Bren
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Название: Konrad P. Liessmann

Автор: Marion Fugléwicz-Bren

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

Серия:

isbn: 9783907126387

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СКАЧАТЬ oder ähnlich, sondern mit der sogenannten «‹Blickwörter-Methode›». Man wollte davon abkommen, Lesen durch Buchstabieren zu erlernen, die Kinder sollten vielmehr immer gleich das ganze Wort erfassen. Dazu wurden Wortgruppen an die Tafel geschrieben – Zeit-, Eigenschafts- und Hauptwörter in verschiedenen Farben – gelb, grün, rot, dann bekamen die Schüler entsprechende Wörter vorgelegt, mussten sie ausschneiden und mit einem Blick die Bedeutung erfassen.

      Der kleine Konrad beherrschte diese Methode nicht, war total frustriert und bekam schlechte Noten. Und wieder kam die rettende Mutter ins Spiel: «Wenn sie mir nicht gegen den Willen der Lehrerin, die ihr das untersagt hat, die ‹alte Methode des Buchstabierens› beigebracht hätte, könnte ich heute weder lesen noch schreiben. Natürlich war mir das Lesen dadurch verleidet.»

      Die Deutschen Heldensagen und Karl May – heute dürfe man es gar nicht laut sagen, weil es politisch inkriminiert sei – haben den Schüler dann zum Lesen gebracht, weil ihn die Inhalte interessierten. Er vertiefte sich in diese dicken Bücher, «die Karl-May-Bücher vermittelten mir, was es heißt, ein dickes Buch zu lesen, was Spannung bedeutet und was es heißt, in ein Buch hineingezogen zu werden, Phantasie zu entwickeln, sich alles vorzustellen». Das Gesicht bleibt ernst, aber seine Augen lachen, während er das schildert.

      Die «Mythologie seiner selbst» und die Musik der wilden 1960er-Jahre

      Was war geschehen? Schon vor der Pubertät machte der Schüler dann eine interessante Erfahrung. «Da ich aus einer ärmeren Familie kam, hatte ich nichts, womit ich in der Schule hätte prahlen können: Wir hatten damals weder ein Auto noch einen Fernseher oder hätten uns einen Skiurlaub leisten können. Ich hatte eine Hose für den Winter und eine für den

      Sommer.»

      Doch dann kam der Sprung. «Ich kann mich noch gut erinnern», erzählt er. Es war noch in der Volksschule: Der Bub ohne augenscheinliche Möglichkeiten, seine Umwelt zu beeindrucken, hatte sich dank der Spannung der Karl-May-Abenteuer eine Art Schnelllesetechnik angeeignet. Karl May war damals natürlich hinlänglich bekannt, etwa wie heute Harry Potter. «In der vierten Klasse konnte ich plötzlich sehr schnell und fließend lesen, und ich erinnere mich an die große Verblüffung, die ich ausgelöst habe, das ungläubige Staunen, als ich sagte, ich könne einen 400 Seiten starken Karl-May-Band in einem Tag auslesen. Niemand glaubte mir, aber ich wusste, ich kann es. Und da bemerkte ich, dass eine bestimmte Form von Lesenkönnen, der Umgang mit Literatur, Selbstbewusstsein vermitteln kann. Das war für mich sehr wichtig, mangels Ressourcen aller anderer Gebiete – kein guter Schüler, nicht reich, kein Auto, keine Urlaubsreisen, mit denen man hätte prahlen können – was blieb mir da übrig?»

      Welche Empfindungen, Prägungen, Bilder aus der Kindheit und Jugend erscheinen sonst noch am Horizont?

      «Nun, man neigt ja dazu, eine Mythologie seiner selbst zu entwerfen, im Nachhinein ist es immer schwer zu sagen, was wirklich prägend war», erzählt der analytische Denker: «Es gibt ja bei Familienevents die typischen Geschichten und Legenden, die man sich immer wieder erzählt und von denen man irgendwann nicht einmal weiß, ob sie stimmen oder nicht.»

      Wenn er an seine Kindheit zurückdenke, gebe es eine starke Ambivalenz. Er möchte nicht sagen, er sei ein unglückliches Kind gewesen, aber besonders strahlend und glücklich war er wohl auch nicht. Durch seine schlechten Schulnoten, aber auch durch das schlechte Verhältnis, das er seit früher Kindheit zu seinem Vater gehabt hatte. Seine Mutter habe er sehr geliebt, das Verhältnis war besonders eng. Wichtige Bezugspersonen waren auch die Großeltern, die leider – «für mich viel zu früh gestorben sind – wir haben alle in einem Haushalt gelebt».

      Er legt die Stirn in Falten, und sein Blick geht ins Leere.

      Die Karl-May-Lektüre war der Auftakt einer Reihe von Episoden, die ihm gezeigt haben, dass sich der Großteil eines kind­lichen Selbstbewusstseins und auch Selbstwertgefühls nur darüber erringen lässt, was man heute Bildungsanstrengungen nennen könnte. «Zumindest bei mir war es so.»

      Er hat sich gern bewegt, was alle Kinder generell tun, meint er. Aber zu seinem Leidwesen war er kein begnadeter Sportler. Vor allem, was wohl schlimm war für einen Buben damals, kein guter Fußballer. Auch kein besonders guter Skifahrer. Ihm fehlten also fast alle Attribute, «… die für ein kindliches Selbstbewusstsein nötig sind. Als ich später bei Alfred Adler die Kompensationstheorie kennenlernte, war mir das vollkommen schlüssig: Geistige Anstrengung ist Kompensation für etwas, was man sonst nicht hat, in der Regel für körperliche Defizite.»

      Die Individualpsychologie Adlers sieht die Ursache der Kompensation im Minderwertigkeitsgefühl des Kleinkinds, das sich als menschliches Wesen unvollkommen fühlt.

      «Hätte ich auf einem dieser Gebiete – also Fußball, Skifahren oder etwas anderes dieser Art – reüssieren können und Anerkennung gefunden, auch wenn ich später nicht professioneller Sportler geworden wäre, wäre ich wahrscheinlich nicht Philosoph geworden.»

      Eine große Rolle in seiner Jugend spielt die damalige Aufbruchsstimmung: Die Gymnasialzeit fiel mitten in die «wilden 60er-Jahre». Die kulturelle und politische Atmosphäre dieser Epoche hat ihn damals nicht nur berührt, sondern unwahrscheinlich stark angezogen, erinnert er sich. Auch die Auseinandersetzung mit der aufkeimenden Pop- und Rockmusik war ihm sehr wichtig, der Ausdruck dieser Musik als Protest gegen den Vater, gegen etablierte Verhältnisse, gegen ein von ihm schon damals empfundenes versteinertes Schulsystem – das waren zentrale Erfahrungen.

      «Man kann sich heute schwer vorstellen, dass ich in einer Zeit groß wurde, in der man mit seinen Eltern darum kämpfen musste, ob man eine bestimmte Art von Musik hören durfte oder nicht.»

      Von seinem ersten ersparten Geld kaufte der «junge Wilde» ein Kofferradio, das all seine Ersparnisse aufzehrte, nur um die Musik und die Sender empfangen zu können, die er eben hören wollte. Dazu gehörte etwa der Sender Radio Luxemburg. «Den Ö3 gab es ja noch nicht.» Das Medium Radio hatte damals freilich einen ganz anderen Stellenwert als heute.

      Laut Wikipedia hat Deutschlands Hitradio RTL seinen Ursprung bei eben jenem Sender Radio Luxemburg (heute RTL), der im Jahr 1933 als erster Privatsender Europas mit einem französischsprachigen Programm begonnen hatte. Nach der Befreiung Luxemburgs im September 1944 galt der Sender als offizielles Sprachrohr des alliierten Hauptquartiers. Wegen des Verbots kommerziellen Radios in Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland wurden bis in die 1980er-Jahre Programme in mehreren Sprachen aus Luxemburg gesendet. Das allein dürfte aus damaliger Sicht schon eine exotische Komponente gehabt haben. Dieser deutschsprachige Radiosender wird heute in Berlin produziert und luxemburg- und deutschlandweit via Kabel, Satellit (europaweit) und gebietsweise auch über UKW gesendet.

      Diese Musik – Pop und Rock – war für den Schüler und Studenten recht prägend. «Ich bin ein Fossil, Radio Luxemburg, das ist alles Steinzeit, ist mir klar.» Sein Musikgeschmack hat sich später radikal geändert, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Philosophie. Wie verlief der Weg von Bob Dylan zu Richard Wagner? Das hängt unter anderem mit seiner Beziehung zu Theodor W. Adorno zusammen … aber dazu später mehr.

      Der Kauf des ersten Radios, um sich selbst zu behaupten, später die erste Tonbandmaschine, um Musik aufzeichnen und später wieder hören zu können, dieser Wunsch blieb jedenfalls in ihm – bis zum heutigen Tag. Wichtig waren ihm auch die Erfahrungen mit der Technik und dem Umgang damit.

      «Sobald ich es mir leisten konnte, kaufte ich mir eine gute Hi-Fi-Anlage und entwickelte eine Beziehung zur Technik der musikalischen Reproduktion, die ja letztlich um die Frage kreist, wie muss eine Anlage gebaut sein, damit die Musik wenigstens annähernd so klingt ‹wie in der Wirklichkeit›. Bis heute kann ich das nicht sein lassen.»

      Liessmanns СКАЧАТЬ