Название: Die Seeweite
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301012
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Jakob war 48 Jahre alt, als er Cecile kennen lernte, – er und Martina also seit beinahe 25 Jahren verheiratet, die letzten fünf Jahre geradezu lustvoll. Die Pille war aufgekommen, und der Deutsche Kolle ermunterte müde Paare, sich mehr Freude zu machen.
Martina erzählte ihm damals, die Frauen in der Fabrik ereiferten sich über Kolle – lachend und witzelnd oder empört und schimpfend. Zum ersten Mal, seit er verheiratet war, machte ihn Martina an und schleppte ihn ins Bett – Jakob wusste nicht, was er davon halten sollte. Bisher war Martina eine Frau gewesen, die es sich einfach gefallen liess – eher hin als wieder. Manchmal hatte er sich gewünscht, zu einer Hure zu gehen, die ES ihm machte, die ihm die Hosen aufknöpfte und das Ding herausholte. Plötzlich tat es Martina. Es war schamlos, seine Frau war schamlos, seine keusche Frau, von der er bisher einfach nahm, was ihm zu gehören schien, und die es sich, weil sie ihn zu lieben hatte, einfach gefallen liess. Er schwankte zwischen zwei Welten. Es war absurd und doch so entsetzlich lustvoll, hinreissend, ein neues Leben. Endlich konnte er sich mit Martina so vergnügen, wie er sich das einst erträumt und später resigniert für unmöglich gehalten hatte, genauso vögelte sie ihn, wie er sich das schon immer gewünscht hatte, sowas hätte er ihr nie zugetraut. Um ganz sicher zu gehen, nahm die 42-jährige Martina jetzt die Pille – dem Papst und all seinen Kardinälen zum Trotz, wie sie zu witzeln wagte. Auch das war neu.
Beide waren sie gläubig. Er sang im Kirchenchor, beinahe jeden Sonntag, aber er ging kaum zur Beichte oder zur Kommunion, obwohl Letzteres seit dem Konzil lockerer zu haben war – man brauchte nicht mehr nüchtern zu sein – und wer seine Sünden mit Inbrunst bereute, konnte die Beichte auf später verschieben. Bestimmt gab es einen Gott, und vermutlich war es für die Seele und das Leben nach dem Tod richtig und wichtig zu glauben und hin und wieder zu beten. Martina war beinahe fromm. Als Mädchen war ihr die göttliche Mutter ein Vorbild, und bis zur Hochzeitsnacht mit Jakob war sie Jungfrau gewesen. Sie ging immer wieder beichten und bedauerte es, als das Latein der Messe den deutschen Gebeten weichen musste. Schliesslich war sie froh, Marcel mit der katholischen Charlotte verheiratet zu wissen. Es war besser so, auch einfacher.
Jakob konnte es nicht lassen, sie zu fragen, ob sie denn die neuen Bettgeschichten dem Beichtiger erzählen würde. Da sagte sie, was er von ihr noch nie in solcher Tiefe gehört hatte: «Nein, da gibt es nichts zu erzählen, denn ich habe dich lieb, und da dürfen wir alles tun, was uns Freude macht» – und sie ergänzte, diese vielleicht gut meinenden und doch meist weltfremden Wasserprediger hätten in ihrem Bett nichts verloren.
Jakob kam es vor, als ob er 20 Jahre neben und mit einer anderen Frau geschlafen hätte. Vielleicht hatte es auch mit dem neuen Leben im Chalet zu tun. Martina war glücklich, dass er Esse und Amboss aufgegeben hatte. Seine Arbeitstage waren lang und schwer gewesen und die Arbeit schmutzig, und immer hatte Jakob nach Kohle, Eisenstaub und Pferdemist gerochen. Jetzt war er am Abend immer früh zu Hause und den Gestank aus der Siederei konnte er sich vor Arbeitsende wegduschen. Auch in der Wohnung gab es weniger Staub, weniger Wäsche, bessere Luft.
Und dann lernte er Cecile kennen. Verfluchte wunderbare Lust.
Am neuen Leben im Bett änderte das nichts – im Gegenteil. Natürlich lernten er und Martina jetzt endlich, über ihr Erleben zu reden. Sie erdachten sich gemeinsam fantasievolle Bilder, an die sie sich bisher nie gewagt hätten, und sie lasen das Dekameron und das Kamasutra, die Abenteuer des Kin Ping Meh, kauften verschämt Magazine mit eindeutigen Anleitungen und verführten sich flüsternd zum Partnertausch, geilten sich daran auf, ohne solches je wirklich anzustreben. Martina hatte Updikes Paare nach Hause gebracht. Sein Inhalt wirkte lange nach.
Niemals, niemals erwähnte der inzwischen 63-jährige Jakob seine heimliche Gespielin Cecile – seit 15 Jahren. Inzwischen war alles ein wenig gelassener geworden. Noch immer waren Jakob und Martina ein gutes Paar, und auch die Sache mit der erträumten Cecile war etwas in die Jahre gekommen, was er durchaus bedauerte. Vielleicht, wenn Marcel und Charlotte es geschafft hätten, wären sie sich hin und wieder begegnet. Das hätte ihm gut getan oder auch nicht, fiel ihm ab und zu ein. Manchmal befiel ihn eine leichte Wehmut, wenn er an Cecile dachte. Aber er liebte Martina durchaus. Martina war ihm immer eine gute und liebe Frau gewesen.
Warum konnten es die jungen Leute nicht auch so halten, grübelte Jakob in der Nacht nach jenem Tag, an dem sich Waldemar Gretler erschossen hatte.
Die äusserlich lächerlich harmlose und doch konsequent verheimlichte Geschichte mit Cecile begann im September 68 an der Hochzeit ihrer Tochter Charlotte mit Marcel Amrein. Sie waren sich zwar schon ein paar Monate zuvor am Tag der Verlobung der jungen Leute begegnet, aber viel Zeit, sich kennen zu lernen, war damals nicht geblieben. Jakob gefiel die mit 42 Jahren ohnehin noch junge, aber auch völlig unverbraucht wirkende Frau mit dem leicht französischen Akzent. Obwohl er ein wenig Französisch sprach, wich er der Anstrengung entschieden aus. Ihr Schweizerdeutsch war nicht nur schnell und gut, sondern auch so wunderbar welsch. Ihren Augen sah man an, dass sie gerne und viel lachte, und das tat sie auch jetzt, an diesem Hochzeitstag, als die Welt noch so war, wie Jakob sie eigentlich schon immer haben wollte.
Geschmückt mit roten Nelken am Revers zog die kleine Gesellschaft bei Glockengeläut und Orgelspiel in die alte Kirche des Städtchens im Luzerner Hinterland. Der Geistliche stellte die wichtigen Fragen, las die Traugebete und sprach sowohl «was Gott gebunden, soll der Mensch nicht trennen» als auch «so seid ihr Mann und Frau, bis dass der Tod euch scheidet». Die beiden Mütter waren sichtlich gerührt, und alle knieten nieder, als der Priester mit der Messe begann. Seit dem Konzil des beliebten, für Millionen von Katholiken und anderen Christen allzu früh verstorbenen grossen Papstes Johannes konnte jedermann die Gebete verstehen und zur Kommunion durften auch alle gehen, selbst die mit vollem Magen, solange sie den richtigen Glauben hatten. Die Predigt handelte vom Glück, das es zu schmieden gelte, vom Segen Gottes für die Menschen guten Willens und von der Liebe, die nur im Glauben ihre wirkliche Tiefe finde.
Cecile hatte schon lange keine Kirche mehr betreten. Nicht weil sie irgendeine ablehnende oder gar feindselige Einstellungen hatte, sondern aus purer Unbekümmertheit. Die Kirche schien ihr nicht mehr wichtig. Während der ganzen Messe war sie in Gedanken durch ihre Vergangenheit gereist, ihre Kindheit und ihr Leben mit Charlotte. Dazwischen hatte es fast nichts gegeben.
Cecile hatte ihre Tochter beinahe alleine, das heisst mit Hilfe der Grosseltern im Seeland – das nicht zu verwechseln ist mit unserer viel nördlicher gelegenen Seeweite – in der Nähe von Murten aufgezogen. Der leibliche Vater von Charlotte, ein polnischer Soldat, Internierter aus dem Lager von Aarberg, war 1945 mit seiner Truppe weggezogen, ohne zu wissen, dass Cecile guter Hoffnung war, wie man damals so schön sagte. Die Suche nach ihm brachte nichts, der Krieg war zu Ende, die Grenzen offen, die Welt roh. Das war für Ceciles Eltern beinahe weniger erträglich als für die junge Mutter. Sie erlebten «die Sache» als Schande und fühlten sich im Dorf dem Spott preisgegeben. Cecile hingegen war vor allem sehr traurig und machte daraus nach und nach eine masslose Wut gegen alles, was nach Mann aussah. Im Grunde aber blieb sie eine frohmütige junge Frau und liess sich nicht unterkriegen. Charlottes Grossvater murrte zwar lange Zeit und verfluchte die rufmordende Geschichte, aber er freute sich schliesslich doch, genau wie seine Frau, eine fröhliche, aber strenggläubige Fribourgeoise, über das hübsche, gesunde, pflegeleichte und stets hungrige Bébé – im Alltag sprach Ceciles Familie Französisch.
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