Название: Die Seeweite
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301012
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Es gab Zeiten, da sah Rös unser Dilemma ganz realistisch. Letztlich entschlossen wir uns, in die Schweiz zurückzukehren und ganz neu zu beginnen.
Und da waren wir nun. Alles wurde schwieriger als je zuvor. Nichts war, wie wir es uns vorgestellt hatten. Wir haben drüben alles, was sich verkaufen liess, verkauft, weil uns der Transport von Möbeln und Hausrat zu teuer schien. Wir reisten mit unserem für den Flug zugelassenen Gepäck und glaubten, unser Bargeld würde uns reichen, uns hier einzurichten und ein paar Monate zu leben. Aber schon eine Wohnung zu einem bezahlbaren Preis zu finden, war schwierig. Was wir an Möbeln brauchten, kauften wir im Brockenhaus. Das war gar nicht so schlecht. Trotzdem schmolz unsere Barschaft wie Schnee an der Frühlingssonne. Zwar fand Rös schnell, jedoch nur als Aushilfe und nur stundenweise Arbeit im Spital. Meinerseits fand ich als Fotograf keine Arbeit, ohne Lehrausweis schon gar nicht. Aber auch als Werkzeugmacher hatte ich keine Chance. Die Konjunktur lahmte. Also verlegte ich mich wieder auf die selbständige Fotografie, und dazu brauchte ich ein Studio und vor allem eine brauchbare Ausrüstung. Eine Kollegin von Rös erzählte von der Wohnung auf dem Land, beim Res. Den Rest weisst du. Du hast mir Geld geliehen, und ich begann Kunden zu suchen, was weit schwieriger war, als ich es mir vorgestellt hatte. Meine Schwester Yvonne verschaffte mir die ersten nennenswerten Aufträge. Es war so etwas wie der Silberstreifen am Horizont.
In der Freizeit begann die Rös, dem Res in Haus und Feld zu helfen. Es täte ihr gut, vor allem die Arbeit an der frischen Luft, sagte sie. Für eine Weile hatten auch wir beide es wieder gut. Nachts umarmten wir uns und hofften auf eine bessere Zukunft. Ich selbst hatte mit Res wenig Kontakt. Rös glaubte, dass ich ihn zu wenig kenne. Sie wollte ihn zu einem gemeinsamen Essen einladen. Ich sah keinen Grund dagegen. Er kam und brachte zwei Flaschen Wein vom Seeberg. Rös machte ein amerikanisches Essen mit T-Bone-Steak, Mais und gebackenen Zwiebelringen. Wir erzählten Res von unserem Leben in Amerika und wie gut es uns hier auf dem Hof gefiel.
Nach dem Essen sahen wir im Fernsehen Marlon Brandos Film ‹Der letzte Tango›, der in vielen Staaten Amerikas seiner angeblich obszönen Szenen wegen verboten war und den wir nur seinem Titel und seinem Ruf nach kannten. Wir sassen auf dem Sofa, Rös in der Mitte, und tranken Whisky. Sie lehnte sich an mich, küsste mich hin und wieder an Hals und Wange, legte ihre Hand auf meine Schenkel. Diese deutliche Art von Einladung hatte es in den vergangenen Jahren selten gegeben. Plötzlich legte sie beide Arme um mich und küsste mich lang und herausfordernd auf den Mund. Ich schob meine Hand unter ihren Jupe und erlag meinem aufgestauten Drang nach Sex. Sie öffnete die Schenkel und liess mich weiterfühlen. Dann wandte sie sich plötzlich Res zu und fragte, ob es ihn nicht störe, wenn wir uns derart beschmusten. Er lachte ziemlich aufgekratzt, er fände es nur schade, davon nichts zu bekommen. Da drehte sie sich zu ihm und küsste ihn mit dem gleichen Ungestüm wie mich zuvor. Ich liess sie gewähren und liess auch meine Hand, wo sie war, im Gegenteil, ich erfühlte ihr heisses Geschlecht, die scharfe Nässe. Alle drei waren wir schon ziemlich betrunken, aber das ist bloss Ausrede. Res verliess uns gegen Morgen nach einer für mich bisher unvorstellbar ausschweifenden Nacht.
Spätestens seither ist Res ihr Freund. Anfänglich sah das nicht eindeutig so aus. Während Tagen und Wochen geilten Rös und ich uns an der gemeinsamen Erinnerung auf und vergnügten uns wie kaum je zuvor, aber wir haben uns nie mehr zu dritt ins Bett gelegt, und sie hat nie diesen Wunsch aufgebracht. Ich ahnte, dass sie mit uns beiden spielte, doch letztlich war ich der Verlierer. In jener Nacht habe ich den letzten Rest meiner Würde verloren. Für Rös war dies meine endgültige Kapitulation vor ihren Wünschen. Drei Jahre sind seither vergangen. Jetzt bin ich am Ende.»
Ich hatte Waldemar nicht mehr unterbrochen, obwohl mich vieles verwirrte und anderes gar verletzte. Immerhin fühlte ich, dass Waldemar aus einer echten, wenn auch vielleicht dümmlichen Not heraus sprach.
«Die Rös betrügt dich also mit Res, nicht zuletzt durch dein ziemlich eindeutiges Mittun, und du bist auch danach nie entschieden dagegen eingetreten, also bist du jetzt Teil des Spiels, und das hält sie dir vor. Du suchst Hilfe, willst aber nicht, dass ich mit ihr rede, was also soll ich tun?»
«Ich bitte dich, ihr zu helfen, wenn ich gegangen bin, und jetzt, da du unsere Geschichte und meine Gründe kennst, wirst du mich verstehen, und das erleichtert meinen Schritt.»
«Eigentlich machst du es dir ziemlich leicht. Alle Fehler scheinen bei Rös oder gar meinem Vater zu liegen. Was du oder eben auch Rös ihm da unterschiebst, ist alles andere als harmlos, und nun soll ich dich gar entschuldigen oder zumindest verstehen?»
«Ich weiss, dass ich Teil des Spiels bin, aber ich weiss auch, dass ich es unterbrechen muss. Rös und ich stehen in der Mitte des Lebens, und wenn ich an eine Fortsetzung denke, graut mir vor uns und unserer Zukunft. Ich suche für sie und mich einen erträglichen Weg. Jeder andere, den ich bisher erdachte, wäre schwieriger für alle, glaub mir.»
«Waldemar, für das, was du mir erzählt hast, hätte ich dich vor zweihundert Jahren zur Rettung der Ehre meiner Schwester und meiner Familie totschiessen müssen. Ich weiss nicht, wie weit Freundschaft gehen kann oder muss, aber du hast unsere Freundschaft von einst an einen Abgrund geführt.»
«Ich weiss, auch das wäre eine Lösung. Ich habe vorher darüber nachgedacht, du darfst es mir glauben.»
Den Rest des Weges legten wir mehr oder weniger schweigend zurück. Waldemar machte keine Aufnahmen, und es wurde mir klar, dass seine ganze Ausrüstung nur zur Verschleierung seines wirklichen Anliegens gedient hatte. Wir trennten uns auf dem Parkplatz und sahen einander nie mehr.
Sein Tod genau eine Woche später war für mich ein ziemlicher Schlag, und er hat in mir alle Zweifel über das Leben meiner Eltern und insbesondere über meinen Vater ausgelöst. Später, nach ihrer Entlassung aus der Klinik, wollte ich mit meiner Schwester über die Jahre mit Waldemar sprechen, aber sie mochte nicht, nicht mit mir. Inzwischen war auch Norbert gestorben. Um mir ein Bild zu machen, blieb nur Bärbel, und die tat sich schwer.
Die Rös hatte Waldemar eröffnet, sie erwarte von Res ein Kind. Dann hatte sie ihn verlassen. Er holte seinen amerikanischen Colt, setzte sich unter einen blühenden Kirschbaum und schoss.
Dies alles hatte Yvonne von meiner Schwester erfahren – vielleicht auch viel mehr. Ich habe sie in der Klinik hin und wieder besucht. Sie sei als Borderliner schwierig zu therapieren. Man wisse darüber noch zu wenig. In Amerika versuche man, das Phänomen zu enträtseln. Später habe ich in dem Buch mit dem Titel «Ich hasse dich, verlass mich nicht» die wichtigsten Borderliner-Merkmale gefunden. Alles passte zu dem, was Waldemar mir erzählt hatte, die Stimmungsschwankungen, Zornausbrüche und Selbstmorddrohungen, die nie aufs Ganze gingen, sondern Erpressungen waren, die Gefühle der Bedrohung, der Leere, der gebrochenen Identität und krankhafte Eifersucht – und alles in Verbindung mit immer neuen, anfänglich überschwänglich erlebten zwischenmenschlichen Beziehungen, deren Scheitern von tiefer Depression und der Flucht in Alkohol oder Drogen begleitet ist.
Ich habe das Buch gelesen, um verstehen zu lernen, warum meine Schwester dieses schwierige Leben führen musste. Es war der Anfang meiner Rückschau auf mein eigenes und das Leben von Norbert und Bärbel.
Seit jenem Sonntag am See sind Jahre vergangen, aber Waldemars Erzählung konnte ich nie vergessen und ich habe mit niemandem ausser mit Erna darüber gesprochen. Meine Schwester lebt noch immer im Wallis, und ich glaube, einigermassen glücklich. Sie kam mit ihrer Freundin Yvonne zu Mutters Begräbnis. Wir haben miteinander kaum gesprochen, aber uns umarmt wie Geschwister es tun, wenn sie sich mögen.
Jakob und die Amreins
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