Schweizer Tobak. Albert T. Fischer
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Название: Schweizer Tobak

Автор: Albert T. Fischer

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783907301005

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СКАЧАТЬ prophezeiten die Patrons den Konkurs der Nation, den Zerfall der Währung und immer wieder war alles nur Umverteilung, zum grossen Teil gerechtfertigt und hinter allem Nachgeben der besitzenden Profiteure stand die Angst vor der Revolution.

      Alles, was die kleinen Franzosen erreichten, mussten sie ertrotzen, hatten sie sich erkämpft durch Protest, durch die Empörung, den Aufstand auf der Strasse. Das war so seit der grossen Revolution gewesen, die nicht nur Frankreich, sondern die gesamte Welt verändert hatte. Niemals würden sich die aufgebrachten Menschen dieses Landes die letzte Möglichkeit, ihr Recht zu ertrotzen, aus den Händen winden lassen.

      Das alles erzählte damals die 60-jährige Concierge dem jungen Studenten André. Es fiel ihm nicht leicht, die in der Schweiz eingeübten Floskeln über Arbeitsfrieden und die rabiaten Feindbilder des Kommunismus zu relativieren. Madame war Kommunistin, ohne Zweifel. Nicht de Gaulle, der hockte in London, gut beschützt, sie verurteilte ihn deswegen nicht, seine Mission war auch wichtig, aber die Kommunisten hatten ihrer Meinung nach das Land im Untergrund als Résistance gegen die Nazis verteidigt. Proletarier wie der 19-jährige Pierre Georges, nach dem Krieg als Held gefeierter Colonel Fabian, hatten zu Tausenden im Untergrund unter Einsatz ihres Lebens gegen die Nazihorden gekämpft, während die bessere Gesellschaft versuchte, mit dem Feind Geschäfte zu machen, sich ein Heer von Beamten an der Verschleppung der Juden beteiligte und vor den Gräueln der Besatzer die Augen schloss.

      Ja, natürlich hatten die Amerikaner den Krieg gewonnen, Frankreich den Franzosen zurückgebracht, aber nicht allein und vor allem nicht dem Lande zuliebe, sondern um ihre Weltherrschaft auszubauen, den Weltkommunismus zu bekämpfen, ihr Coca-Cola zu verkaufen. Hatten die Amerikaner nicht auf ihrem Zug gegen Osten den Rest der noch intakten Infrastruktur und die noch vorhandenen Industrieanlagen Frankreichs zerstört? Das behauptete Madame Arnoud, daran duldete sie keinen Zweifel.

      Sie sprach ein für ihre Herkunft erstaunlich gutes Französisch. André liebte es, am Abend in ihrer Loge zu sitzen und ihr zuzuhören. Durch die Jahrzehnte hatte sie eine Unmenge Bücher gelesen. Die Bücher, sagte sie, hätten ihr geholfen, neben dem Trunkenbold zu überleben.

      André versuchte nicht, ihre Weltsicht in Frage zu stellen, er fühlte sich als ihr Gast. Die Geschichte Frankreichs war bisher nicht seine Spezialität gewesen. Ihn hatte in der Mittelschule die italienische Renaissance fasziniert und erst nach den Monaten in Paris wechselte er die Richtung.

      Zudem hatte Madame Arnaud seit kurzem einen Fernseher, der ständig lief. Vor zwei Jahren erst, erinnerte sie ihn, war der grosse General als erster Mann der Republik zurückgekommen. De Gaulle, obwohl kein Freund der Kommunisten, würde vielleicht dem Volk, so hoffte sie, den Stolz zurückgeben und endlich den Krieg in Algerien beenden. Er werde den Sozialisten und Kommunisten Konzessionen machen, davon war sie überzeugt.

      Anfänglich glaubte André, Madame Arnoud sei gewissermassen die Repräsentantin der älteren Generation und gäbe kaum die Stimmung einer Mehrheit wieder. Zunehmend musste er jedoch zur Kenntnis nehmen, wie sehr auch die Kommilitonen an der Sorbonne und anderen Hochschulen einer sozialistischen, wenn nicht gar kommunistischen Weltsicht anhingen. Ideologisch nicht weit entfernt bewegten sich auch die Meinungsmacher des Lehrkörpers. Für André war das alles sehr erstaunlich.

      Andererseits erlebte er selbst, unter welch armseligen Verhältnissen viele seiner Kommilitonen lebten. Es gab sie durchaus, die «Fils à papa», die Blousons noir aus vermögenden Familien, doch das war nicht die Regel. Nicht nur im privaten Bereich mangelte es an allen Ecken und Enden. Auch die Einrichtungen in den Hörsälen liessen viele Wünsche offen, sie waren veraltet, ungenügend unterhalten, zum Teil schäbig bis unbrauchbar und vor allem im Winter wurde völlig ungenügend geheizt.

      Er hatte bisher in einem Land gelebt, in dem alles, was nur leicht nach «roten Ideen» aussah, aufs Schärfste verurteilt und zurückgewiesen worden war. Wirkliche oder vermeintliche Sympathisanten, die nach Ostdeutschland oder Russland reisten, wurden nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt und ab und zu gar verprügelt. Hier in Frankreich und besonders in Paris gab es durchaus beide Lager, die sich auch nichts schenkten, doch stellten die linken Parteien eine einflussreiche und ernst zu nehmende Macht dar, die, auch wenn eine labile Mehrheit sie noch immer ablehnte, in ihrem Kern als patriotisch und rechtschaffen galt. Es gab das Lager der Stalinisten, der Moskauhörigen, aber es gab auch die Ami-Hörigen. Beide waren blind auf einem Auge, meinte Madame Arnoud trocken, wenn André sie auf die blinde Seite ihrer Sicht aufmerksam machte.

      In den Kinos wurden Filme aus der Sowjetunion nicht nur gezeigt, sondern öffentlich gepriesen. André ging hin, mit grosser Skepsis, in Erwartung reiner Propaganda und war beinahe irritiert über die völlig unpolitische Handlung der Geschichte, einer Liebe in der riesigen Kornebene der Wolga, wie sie sich in irgendeinem Land hätte zutragen können, eine Art Romeo und Julia auf dem Land, die tragisch endete. André war gerührt, er hätte beinahe geheult und das wegen eines Filmes aus der Sowjetunion.

      Viele Jahre später, als er mit Miriam in eine gemeinsame Pariser Wohnung zog, war auch der letzte Krieg längst überwunden, die Denkmäler, Paläste, Kirchen und Häuser der Stadt vom klebrigen Russ befreit. Im Westen der Stadt war ein neues modernes Zentrum entstanden. Die Caravelle, der zweistrahlige Jet, war zu einem grossen Geschäft geworden. Frankreich war wieder da, wie es sich Madame Arnoud gewünscht hatte.

      Noch mehr aber musste sie sich 1968 über den Aufstand der französischen Jugend gefreut haben. Was die eigentlich wollte, wusste niemand so genau, aber sie zertrümmerte festgefahrene Strukturen, befreite sich aus der Enge straffer Gewohnheiten und der Zucht autoritärer Würdenträger in allen Bereichen. Neue und bessere Luft sollte in die Hörsäle, Amtsstuben und Fabriken strömen.

      Viele der Aufrührer, vor allem im Bereich der studierenden Jugend, übernahmen Ideen der Befreiung aus Amerika. Dort richteten sie sich gegen die intolerante Sturheit der festgefahrenen etablierten Kasten, die Rassendiskriminierung. Sie sahen in ihnen den Verrat der Ideen von John F. Kennedy und als Folge den schwachsinnigen Krieg in Vietnam.

      Im Elyséepalast hielt Pompidou Hof. Doch der Alltag der lohnabhängigen Menschen blieb nach wie vor ein sehr bescheidener. André und Miriam lebten in einem älteren Haus im 18. Arrondissement. Ihre Wohnung mit zwei Zimmern und einer kleinen Küche ohne Bad und Terrasse lag im sechsten von acht Stockwerken ohne Aufzug. Sie waren jung, Treppensteigen war gesund, mit einem Bébé war es schon ein wenig beschwerlicher, für ältere Leute eine Qual. Um ihrem Bedürfnis nach Sauberkeit zu folgen, besuchten sie zweimal die Woche die öffentlichen Duschen, wie beinahe alle Leute im Quartier.

      Sie kamen damit zurecht, aber für ihn war das alles sehr eng. Ab und zu verwünschte er dieses «Loch», wie er es nannte. Als dann die erste Tochter zur Welt kam, wurde alles noch schwieriger, nicht nur wegen der Enge, sondern auch, weil Miriam nur noch wenig arbeiten konnte und er selbst bisher keine feste Anstellung gefunden hatte. An einen Umzug war jetzt noch weniger zu denken als zuvor. Wenn Miriams Eltern nicht immer wieder geholfen hätten, wäre das Leben sehr schwierig geworden. Nie bat er seine Mutter oder seine Geschwister um Hilfe. Sie hätten ihm mit Sicherheit vorgeschlagen, die Zelte in Paris abzubrechen und mit seiner kleinen Familie in die Schweiz zurückzukehren. Das wollte Miriam nicht und das wollte er nicht. Die beiden hatten darüber nicht wirklich Streit, aber ihre Beziehung nahm Schaden. Es blieb nichts übrig für ihre kulturellen Ansprüche und auch nicht für die Pflege ihrer bisherigen Freundschaften. André befürchtete so etwas wie einen sozialen Abstieg. Er hielt sich und seine Situation für bedauernswert.

      Die manchmal beinahe zerbrechlich wirkende Miriam fand sich damit besser ab. Sie war weniger verwöhnt, obwohl sie ihre Jugend ausserhalb der Stadt mit mehr Freiraum verbracht hatte. Sie lernte entgegen gängiger Klischees über die Einwohner dieser Stadt die Leute von nebenan kennen, wusste, wer über und unter ihnen wohnte. Sie wurde gewahr, wovon die Leute lebten und welche grösseren und kleineren Sorgen sie allenfalls haben mochten. Natürlich wusste sie vieles nicht genau, sie wollte es auch nicht absichtlich ergründen.

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