Название: Die Ökonomie der Hexerei
Автор: David Signer
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
isbn: 9783779505068
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Meist weist die afrikanische Diagnose jedoch auf Ursachen hin, die unseren Tests und Instrumenten entgehen würden. Ursachen, die aus der „anderen Welt“ kommen, jener der Hexerei und der Geister. Auch die Behandlung ist entsprechend vor allem auf jene ausgerichtet. Natürlich spielen Medikamente eine Rolle; aber auch diesen wird erst Wirksamkeit zugeschrieben in Verbindung mit einer vorgängigen rituell-magischen Behandlung (die Pflanzen müssen zum Beispiel „besprochen“ werden). Wichtiger sind die verschriebenen Opfer (in Mali zum Beispiel oft ein bestimmtes Huhn und eine bestimmte Anzahl bestimmter Kolanüsse) sowie die Maßnahmen zur künftigen Abwehr des Bösen (zum Beispiel die gris-gris, in Leder eingenähte Schutzobjekte).
Wie man sieht, ist der afrikanische Féticheur zugleich weniger und mehr als unser Arzt. Er ist ebenso Psychologe, Familientherapeut, Seelsorger, Priester, Schiedsrichter, Zeremonienmeister, eine Art Performance-Künstler und last but not least eine Art Ökonom, Spezialist für Fragen der Lastenverteilung, Lastenumverteilung, Kosten, Schulden, Rückzahlung, Ausgleich. Dieser ökonomische Aspekt seiner Analysen und Behandlungen hängt zusammen mit Vorstellungen von Hexerei, die wiederum viel mit dem Problem des Neides zu tun haben. Ein großer Teil der Störungen, die zum Aufsuchen eines Heilers führen, wird mit den Phänomenen des zu schnellen Wachstums, der raschen Bereicherung, des überraschen Erfolgs und des überraschenden Sturzes in Verbindung gebracht, mit Fragen des Gebens und Verteilens beziehungsweise der Weigerung, genug abzugeben und den Folgen der daraus erwachsenden Missgunst. Opfer sind unter diesem Blickwinkel Geschenke des Wiedergutmachens, eine archaische Besteuerung, ein Wiedereinkauf ins Soziale.
Und damit ist man bereits im Herzen des afrikanischen Psycho- und Sozialsystems.
Worum es geht
Im Oktober 1994 führte ich in Man, einer Stadt im Westen der Elfenbeinküste, ein sehr interessantes Gespräch mit einem jungen Mann namens Jean-Claude.
„Hexerei“, sagte er mir, „ist das größte Hindernis für Entwicklung in Afrika.“
Ich fragte: „Meinst du Hexerei oder den Glauben an die Hexerei?“
„Hexerei. Hexerei ist eine Realität. Immer wenn jemand aufsteigt, Erfolg hat, überdurchschnittlich ist, riskiert er, verhext zu werden. Der Neid ist so allgegenwärtig. Das führt zu Angst, Entmutigung, Lähmung jeder Initiative. Hexer essen am liebsten Erfolgreiche, Diplomierte, Studenten, junge hoffnungsvolle Talente. Und am liebsten einen aus der eigenen Familie. Sie verteilen ihn in ihrer Gruppe, und das nächste Mal ist ein anderer dran, jemanden aus seiner Verwandtschaft zu offerieren. So geht das immer weiter. Hast du einmal mitgegessen, stehst du in ihrer Schuld. Opferst du dann nicht jemanden von den Deinen, geht’s dir selbst an den Kragen. In meiner Familie zum Beispiel ist es ein Bruder meines Vaters, der alle Erfolge verhindert. Seine eigenen Söhne reüssieren, aber alle anderen stranden. Ich selbst war ein guter Schüler; bis zur Abschlussprüfung, da versagte ich. Ich weiß selbst nicht warum. Deshalb konnte ich nicht weitermachen mit der Schule. Mir bleibt nur noch, auf einen Erfolg in der Lotterie zu hoffen!“
Jean-Claude ist ein Yacouba. Doch ich habe in den folgenden Jahren ähnliche Beschreibungen in den verschiedensten Regionen und bei unterschiedlichsten Leuten der ganzen Elfenbeinküste, aber auch in andern Ländern Westafrikas gehört.
Wie man aus meiner Frage heraushört, verstand ich Jean-Claudes Gedankengang, dass „Hexerei“ entwicklungshemmend sei, weil es den Ehrgeiz einschüchtert. Aber ich tendierte zu jener Zeit noch dazu, Hexerei als einen Aberglauben zu betrachten. Wäre Hexerei bloß eine Angelegenheit des Glaubens, wäre es für den Einzelnen prinzipiell möglich, das Problem zu überwinden. Heute stehe ich Jean-Claudes (oder der „emischen“) Sicht näher: Hexerei ist eine Realität, auch wenn ich vielleicht einschränken würde: eine soziale Realität. Das heißt: Auch wenn wir den Glauben an Versammlungen, wo die hoffnungsvollsten Familienmitglieder verzehrt werden, nicht teilen, so ist doch die Feststellung der zerstörerischen Kraft des Neides in der afrikanischen Gesellschaft nicht zu leugnen. Diese Kraft ist aber etwas anderes als eine Angelegenheit des individuellen (Irr-)Glaubens. Sie betrifft die Ebene der sozialen Tatsachen und Strukturen, der Soziologie. Dass es nicht einfach um (Individual-)Psychologisches geht, zeigt schon der Sachverhalt, dass jemand wie Jean-Claude das Problem haarscharf erfasst und ihm trotzdem nicht entkommt.
Offizielle Hexereianklagen können heute nicht mehr erhoben werden, Ordale sind in den meisten afrikanischen Staaten verboten. Der Hexereidiskurs ist inoffiziell geworden, dadurch aber auch entgrenzter, diffuser und allgemeiner. Seine Domänen sind heute, neben dem Psychischen (den Vermutungen und Ängsten) das Gerücht, das Geschwätz und die Behandlungszimmer der traditionellen Heiler. Aber die Weltsicht, die in der Hexerei zum Ausdruck kommt (die impliziert, dass individueller Erfolg und sozialer Aufstieg gefährlich sind, weil sie – potenziell tödliche – Neider anziehen), ist immer noch allgegenwärtig, auch wenn das Wort „Hexerei“ dabei gar nicht verwendet wird. Ich möchte das an einem weiteren kleinen Fallbeispiel veranschaulichen:
Abou ist ein junger Mann aus der Gegend von Odienné, der in Bouaké eine cabine téléphonique bedient. Eines Tages sagte er mir:
„Es ist besser nicht zu arbeiten, als zu arbeiten.“
„Warum?“, fragte ich.
„Weil es auf dasselbe rauskommt. Jeden Tag kommen zehn Leute, um mich anzupumpen. Weitere zehn kommen, um auf Kredit zu telefonieren. Ils me fatiguent jusqu’à ce que j’accepte. Es ist so viel Bargeld in der Schublade, ich kann nicht sagen, ich hätte nichts. Und ich kann auch nicht abhauen. Sie können mich den ganzen Tag bearbeiten, bis sie kriegen, was sie wollen. Und Ende des Monats habe ich zwar gegessen, aber ich stehe ohne einen Sou da, genau so wie die, die mich angepumpt haben und selber nicht arbeiten. Ich möchte nach London gehen. Du siehst mich seit zwei Jahren jeden Tag hier arbeiten, aber ich bin keinen Zentimeter vorwärtsgekommen. Ich muss weg.“
Wie zur Illustration dieser Situation hat Abou zwei Sprüche auf die Wand hinter sich geschrieben:
„L’enfer c’est les autres“ („Die Hölle, das sind die andern“) und „L’homme n’est rien sans l’homme„ („Der Mensch ist nichts ohne den Menschen“).
Man kann das afrikanische Dilemma wohl kaum prägnanter ausdrücken. Abou hat eigentlich alle Voraussetzungen und alles getan, um weiterzukommen. Er zeigt Initiative. Neben seinem Job in der Kabine unterhält er einen Kleinhandel mit allem Möglichem. Er ist intelligent, sprachgewandt und recht gebildet. Er ist aufgeklärter Muslim. Er hat die Provinz verlassen, um in die Großstadt zu kommen, wo er nicht mehr den engen Beschränkungen und Verpflichtungen der Familie untersteht. Trotzdem hat er nicht alle Verbindungen gekappt. Er wohnt bei seinem Onkel und geht von Zeit zu Zeit ins Dorf auf Besuch. Er ist umgänglich, gesprächig, allseits beliebt. Er ist weder verschwenderisch noch geizig. Er ist ledig und hat noch keine Kinder zu unterhalten. Er trinkt nicht und raucht nicht. Mit andern Worten: In einem friedlichen, recht prosperierenden Land wie der Elfenbeinküste müsste ein Mann wie er eigentlich weiterkommen. Warum kommt er auf keinen grünen Zweig? Er sagt es selber: Es liegt an der Art der herrschenden Sozialbeziehungen, und zwar vor allem, insofern sie Ökonomisches betreffen, konkret: an der Pflicht zu teilen und der Unmöglichkeit zu sparen.
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