Название: Gesammelte Werke
Автор: Odon von Horvath
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027226528
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Agnes schwieg und der Kastner lächelte zufrieden, denn es fiel ihm plötzlich auf, daß er auch Talent zum Tierbändiger hat. Und er fixierte sie, als wäre sie eine Löwin, eine Tigerin oder zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancieren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich entsetzt dabei, wie er sich verbeugen wollte.
»Was war denn das!« fuhr er sich an, floh aus dem Zirkus, der plötzlich brannte und knarrte los:
»Zur Sache! Es geht um dich! Es geht einfach nicht, was du in erotischer Hinsicht treibst! Ich verfolge mit zunehmender Besorgnis deinen diesbezüglichen Lebenswandel. Ich habe den positiven Beweis, daß du dich, seit du arbeitslos bist, vier Männern hingegeben hast. Und was für Männern! Ich weiß alles! Zwei waren verheiratet, der dritte ledig, der vierte geschieden. Und soeben verließ dich der fünfte. Leugne nicht! Ich habe es ja gesehen, wie er dich nach Hause gebracht hat!«
»Was geht das dich an?« fragte ihn Agnes ruhig und sachlich, denn es freute sie, daß er sich wiedermal über ihr Triebleben zu ärgern schien. Sie gähnte scheinbar gelangweilt und ihre Sachlichkeit erregte sie, ähnlich wie Eugens linke Hand und es tat ihr himmlisch wohl, seine Stiftzähne wiedermal als abscheulich, ekelhaft, widerlich, unverschämt, überheblich und dumm bewerten zu können.
»Mich persönlich geht das gar nichts an«, antwortete er traurig wie ein verprügelter Apostel. »Ich habe nur an deine Zukunft gedacht, Agnes!«
Zukunft! Da stand nun wieder dies Wort vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Es war ein altes verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur, daß es noch älter war, noch schmutziger, noch zahnloser, noch vergrämter, noch verschlagener – – –. »Ich stricke, ich stricke«, nickte die Zukunft, »ich stricke Strümpfe für Agnes.«
Und Agnes schrie: »So laß mich doch! Was willst du denn von mir?«
»Ich persönlich will nichts von dir«, antwortete der Kastner feierlich und die Zukunft sah sie lauernd an.
12
»Du bist natürlich in einer sogenannten Sackgasse, wenn du dir etwa einbildest, daß mein Besuch zu dieser allerdings ungewöhnlichen Stunde eine Wiederannäherung bedeutet«, fuhr er nach einer Kunstpause fort und setzte ihr auseinander, daß, als er sie kennenlernte, er sofort erkannt hat, daß sie keine kalte Frau, sondern vielmehr feurig ist, ein tiefes stilles Wasser, eine Messalina, eine Lulu, eine Büchse der Pandora, eine Ausgeburt. Es gäbe überhaupt keine kalten Frauen, er habe sich nämlich mit diesen Fragen beschäftigt, er »spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung«. Man solle sich doch nur die Damenmode ansehen! Was zöge sich solch eine »kalte Frau« an! Stöckelschuhe, damit Busen und Hintern mehr herausträten und sich erotisizierender präsentieren können, ein Dekolleté in Dreiecksform, deren Linien das Auge des männlichen Betrachters unfehlbar zum Nabel und darunter hinaus auf den Venusberg führen, sollte er auch gerade an der Lösung noch so vergeistigter Probleme herumgrübeln. Häufig entfache auch eine scheinbar sinnlose, jedoch unbewußt hinterlistig angebrachte Schleife am Popo vielgestaltige männliche Begierden und diese ganze Damenmode stamme aus dem raffinierten Rokoko, das sei die Erfindung der Pompadour und des Sonnenkönigs. Aber nun wolle er seinen kulturgeschichtlichen Vortrag beenden, er wisse ja, daß sie ein richtiges Temperament hat und er wolle ihr nur schlicht versichern, daß sie sich gewaltig täuscht, wenn sie meinen sollte, er sei nur hier wegen ihrem heißen Blut – – – Nie! Er stünde vor ihr ohne erotische Hintergedanken, lediglich deshalb, weil er ein weiches Herz habe und wisse, daß sie keinen Pfennig hat, sondern zerrissene Schuhe und nirgends eine Stellung findet. Er habe in letzter Zeit viel an sie gedacht, gestern und vorgestern, und endlich habe er ihr eine Arbeitsmöglichkeit verschafft.
»Allerdings«, betonte er, »ist diese Arbeitsmöglichkeit keine bürgerliche, sondern eine künstlerische. Ich weiß nicht, ob du weißt, daß ich mit dem berühmten Kunstmaler Lothar Maria Achner sehr intim bekannt bin. Er ist ein durchaus künstlerisch veranlagter hochtalentierter Intellektueller, zart in der Farbe und dennoch stark, und sucht zur Zeit krampfhaft ein geeignetes Modell für seine neueste werdende Schöpfung, einen weiblichen blühenden Akt. Auf einem Sofa. Im Trancezustand. Er soll nämlich im Auftrag des hessischen Freistaates eine ›Hetäre im Opiumrausch‹ für das dortige Museum malen.«
Das war nun natürlich nicht wahr, denn als Auftraggeber dieser werdenden Schöpfung zeichnete nicht der hessische Freistaat, sondern ein kindischer Viehhändler aus Kempten im Allgäu, der einer kultivierten Hausbesitzerswitwe, auf deren Haus er scharf war, zeigen wollte, daß er sogar für moderne Kunst etwas übrig hat und, daß er also nicht umsonst vier Jahre lang in der Kunststadt München mit Vieh gehandelt hatte.
»Ich dachte sogleich an dich«, fuhr er nach einer abermaligen Kunstpause fort, »und ich habe es erreicht, daß er dich als Modell engagieren wird. Du verdienst pro Stunde zwanzig Pfennig und er benötigt dich sicher fünfzig Stunden lang, er ist nämlich äußerst gewissenhaft. Das wären also zehn Mark, ein durchaus gefundenes Geld. Aber dieses Geld bedeutet nichts in Anbetracht deiner dortigen Entfaltungsmöglichkeiten. Im Atelier Lothar Maria Achners gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, darunter zahlreiche junge Herren im eigenen Auto. Das sind Möglichkeiten! Es tut mir nämlich als Mensch persönlich leid, wenn ich sehe, wie ein Mensch seine Naturgeschenke sinnlos verschleudert. Man muß auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Rationalisation! Rationalisation! Versteh mich recht: ich verlange zwar keineswegs, daß du dich prostituierst – – – Agnes, ich bin bloß ein weichherziger Mensch und ohne Hintergedanken. Es ist wohl töricht, daß ich mich für dich einsetze, denn daß du beispielsweise seinerzeit am Ammersee unpäßlich warst, das glaube ich dir nimmer!«
Natürlich war sie damals nicht unpäßlich gewesen, aber der Kastner hatte kein Recht sich zu beschweren, denn es war erstunken und erlogen, daß er ihr derart selbstlos die Stellung als Hetäre im Opiumrausch verschaffte. Er hatte vielmehr zu jenem Kunstmaler gesagt: »Also, wenn du mir zehn Mark leihst, dann bringe ich dir morgen ein tadelloses Mädchen für zwanzig Pfennig. Groß, schlank, braunblond, und es versteht auch einen Spaß. Aber wenn du mir nur fünf Mark leihen kannst, so mußt du dafür sorgen, daß ich Gelegenheit bekomme, um sie mir zu nehmen. Also ich erscheine um achtzehn Uhr, Kognak bringe ich mit, Grammophon hast du.«
Er blieb vor ihr stehen, bemitleidete sich selbst und nickte ihr ergriffen zu: »Ich wollte du wärest nie geboren. Warum denn nur, frage ich mich und dich, warum denn nur gibst du dich mir nicht? Doch lassen wir dies! Passé!« Und Agnes dachte: warum denn nur sage ich es ihm nicht, daß er vorn lauter Stiftzähne hat?
»Du kannst eben nicht lieben«, meinte er. »Du bist allerdings häufig bereit, dich mit irgendeinem nächsten Besten ins Bett zu legen, aber wie du fühlst, du könntest dich in jenen nächsten Besten ehrlich mit der Seele verlieben, kneifst du auf der Stelle. Du würdest ihn nimmer wiedersehen wollen, er wäre aus dir ausradiert.«
13
Agnes sagte sich, wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so habe er eben diesmal recht. Sie müsse wirklich mehr an sich denken, sie denke zwar eigentlich immer an sich, aber wahrscheinlich zu langsam. Sie müsse sich das alles genau überlegen – was »alles«? Merkwürdig, wie weit nun plötzlich das ganze Oberwiesenfeld hinter ihr liegt, als wäre sie seit vier Wochen nicht mehr dort spaziert. Und es sei doch eigentümlich, daß dieser Eugen sie schon nach zwei Stunden genommen hat und daß das alles so selbstverständlich gewesen СКАЧАТЬ