Название: Als der Fluss zu Staub zerfiel
Автор: Sabine Walther
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783742772602
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„Du weißt, ich habe diese schreckliche Angst von meiner Großmutter geerbt, die als junges Mädchen so oft in den Bombenkeller flüchten musste. Aber jetzt kam noch das Warten dazu, weißt du, dieses unheimlich lange Warten auf den Anruf und …
Und du weißt eigentlich schon im Voraus, was geschehen wird, aber du willst es nicht wissen. Als würdest du einen Krimi lesen und schon auf der ersten Seite wird verraten, wer der Mörder ist, aber du ignorierst es … Es gibt sowieso nur einen Mörder … aber du ignorierst es.“
Jenny zündete sich die nächste Zigarette an und Saletta fühlte, wie der Qualm sich zu einer Wolke verdichtete, die das Unwetter imitierte.
„Ich weiß nicht mehr, worauf zu warten anstrengender war, auf den nächsten Blitz oder auf das Klingeln des Telefons. Das Gewitter zog sich hin, näherte sich grummelnd, entlud sich kurz über dem Haus, zog weiter, konnte den Fluss nicht überqueren und kehrte daher wütend zurück, um sich erneut und noch heftiger über unserem Haus zu entladen. Ich saß da wie gelähmt, zählte die Sekunden zwischen Donner und Blitz, hoffte, es würde endlich zu regnen beginnen. Aber Blitz und Donner schlugen weiter in die knisternde Hitze, kein Prasseln, das mich erlöste. Nur diese aufgeladene Atmosphäre, weißt du noch, als Kinder konnten wir das spüren und niemand glaubte uns. Du und ich, wir waren uns so ähnlich, so nah …“
„Ja“, sagte Saletta und versuchte ihr Unwohlsein zu verbergen.
„Was dann?“
„Alles gleichzeitig. Erst dieser entsetzliche Moment der Stille. Du weißt, es ist nicht vorbei. Dann folgten Blitz und Donner im gleichen Moment aufeinander, es schlug ein. Ein ohrenbetäubender Lärm, bei dem ich das Klingeln des Telefons fast überhört hätte. Einen Moment lang traute ich mich nicht, mich zu bewegen, dann ging langsam, wie in Zeitlupe, das Licht aus. Ich schrie auf und rannte zum Telefon.“
Jenny schwieg einen Moment, sah die andere fast zornig an.
„Du bist nicht die einzige, die Leid erfahren hat.“ Sie trank einen Schluck Rotwein.
„Entschuldige. Ich hätte den Hörer nicht abzunehmen brauchen. Ich wusste, sie hatten ihn gefunden. Draußen begann es endlich zu regnen. Ich brauchte nicht zu weinen. Er starb auf See und ich konnte mich nicht verabschieden. Nur der Regen, das Wasser verband uns noch.“
Jenny sah sie durchdringend an.
„Einen Menschen zu verlieren, den man liebt, schmerzt unermesslich. Einen Menschen zu verlieren, ohne sich verabschieden zu können, vereint den Schmerz mit dem Unbegreiflichen. Mein Verstand und mein Herz weigerten sich zu glauben. Ich war sicher, sie hatten sich getäuscht, er würde eines Tages wieder vor der Tür stehen. Jahrelang lief ich durch die Straßen und erwartete an jeder Biegung, er würde dahinter auf mich warten, erschrak vor Hoffnung, wenn ich aus der Ferne einen Menschen sah, der ihm ähnelte.“
Salettas Unruhe steigerte sich, wurde unerträglich. Rasch stand sie auf und öffnete das Fenster. Sie wollte nicht, dass der giftige Nebel eine Verbindung zwischen ihnen schuf. Jenny ließ sich davon nicht beeinflussen, erzählte ruhig weiter.
„Vielleicht wurde dieser Wunsch, dieser Zwang, ihn überall erblicken zu wollen, auch daraus genährt, dass ich seinen Tod vorab geträumt hatte. Kennst du diese Träume, die so real scheinen, die kennst du doch noch?“
Saletta nickte stumm.
„Ich lief über ein großes Feld, das mit Leichen übersät war, und da lag er. Mit einer Schubkarre fuhr ich ihn an eine einsame Stelle – er lebte noch, aber ich konnte ihn nicht retten.“
Bitte höre auf, flehte Saletta innerlich.
„Ich war über diesen Traum so erschrocken, dass ich niemandem davon erzählte, auch David selbst nicht. Vermutlich hätte er gedacht, es sei ein verdeckter Wunsch darin – der Tod unserer Beziehung oder so etwas. Er musste ja immer alles aus einer Psycho-Perspektive deuten. Daher fragte ich mich anschließend, ob ich ihn hätte retten können, wenn ich über meinen Traum gesprochen hätte. Wäre er von Bord gegangen, wenn ich ihm davon erzählt hätte? Und selbst wenn, hätte das etwas an seinem Schicksal geändert? Wäre er nicht vielleicht trotzdem gestorben, weil die Vorsehung es so bestimmt hatte? Was denkst du, Sanna? Ist uns ein fester Zeitpunkt bestimmt, an dem wir sterben müssen? Oder werden wir eines Tages vielleicht sogar den Tod überwinden?“
Das ist ja entsetzlich. Antworte ihr nicht, lass dich nicht darauf ein.
„Es tut mir leid, Jenny“, sagte Saletta, endlich einmal bereit, der Stimme zu gehorchen, „es tut mir wahnsinnig leid, aber du musst jetzt gehen.“
Jenny stand sofort auf, als hätte sie mit dieser Reaktion gerechnet. „Ich verstehe schon“, sagte sie. „Das passt nicht in dein Weltbild. Du versuchst immer noch, die Fassade aufrecht zu erhalten, nicht wahr?“
Sie zündete sich im Stehen noch eine Zigarette an. „Eines noch“, sagte sie. „Weißt du eigentlich, dass du mir schon damals, als wir noch Kinder waren, mein einziges Instrument genommen hast, mit dem ich die Angst vor Gewitter im Zaum halten konnte?“
„Ich?“
„Ja, du. Meine Mutter hatte mir gesagt, ich müsse herausfinden, wie lang der Abstand zwischen Blitz und Donner ist. Allerdings hatte sie es mir falsch beigebracht oder ich hatte es falsch verstanden. Ich dachte, der Abstand pro Sekunde belaufe sich auf etwa 3 Kilometer. Wenn ich also bis 5 zählen konnte, bevor es donnerte, wäre das Gewitter noch 15 Kilometer entfernt. Das hat mich oft beruhigt, obwohl, wie du mir dann schlaumeierisch erklärtest, die Entfernung ganz anders berechnet wurde. Es sind ja nur 333 Meter, die der Schall in einer Sekunde zurücklegt.“
„Also hätte ich dich lieber nicht über deine falsche Berechnung aufklären sollen?“
„Genauso ist es, Schatz. Manchmal zerstört die Wahrheit mehr, als dass sie uns nützt. Aber wie auch immer“, sagte sie, „ich habe ohnehin keine Angst mehr.“
Sie drückte entschlossen ihre Zigarette aus, nahm ihre Jacke und ihre Handtasche, die sie aufs Kanapee gelegt hatte.
„Ich werde wiederkommen“, sagte sie und es klang wie eine Drohung.
„Ich weiß“, erwiderte Saletta zu ihrem eigenen Erstaunen und schob sie in Richtung Tür.
Eine kurze Umarmung, dann endlich war sie fort. Saletta versuchte, die Stille zu atmen, aber der Damm war gebrochen. Erinnerungen trügen, aber sie lassen sich nicht auslöschen. Sie sah den schwarzen Audi, der ihren Eltern die Vorfahrt genommen hatte. Das gleiche Automodell, das Mascha …
Zufall, es ist nur ein Zufall, ein Zusammenhang ist nicht nachweisbar! Schnell setzte sie die Rotweinflasche an, nahm einen kräftigen Schluck und musste husten. Der Rotwein aus ihrem Mund ergoss sich über das Sofa. Sie versuchte ihn wegzuschrubben, bis die Tränen ihr endlich die Sicht nahmen und sie den Kampf ermüdet aufgab.
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