Als der Fluss zu Staub zerfiel. Sabine Walther
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Читать онлайн книгу Als der Fluss zu Staub zerfiel - Sabine Walther страница 6

Название: Als der Fluss zu Staub zerfiel

Автор: Sabine Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783742772602

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СКАЧАТЬ Geschenk allerdings vergessen hatte.

      Sie unterbrach ihren Vater kurz, mit der Bitte, sich setzen und etwas essen zu dürfen. Der zeigte sich einigermaßen überrascht, dass sie in einem so bedeutsamen Moment überhaupt ans Essen denken konnte, schrieb das aber wohl ihrer Verwirrung über die außerordentliche Bedeutung dieses Tages zu.

      Während Saletta lustlos an ihrem Vollkornbrot herummümmelte und sich überlegte, was für ein Geschenk sie ihren Mitschülern in diesem Jahr präsentieren konnte und woher sie das Geld dafür bekommen sollte, machten ihre Eltern sie mit den Eckpunkten ihrer gemeinsamen Theorie vertraut, die sie in langen Jahren erarbeitet hatten und an der sie noch stets weiter herumfeilten.

      Es ging im Groben wohl darum, dass sie ihr Fachwissen in einen Topf geworfen und eine Theorie zur Konstruktion von Wirklichkeit entworfen hatten. Ganz nach dem Motto „das Private ist das Politische“ hatten sie darüber zu forschen begonnen, wann ein Menschenleben begann und wann es endete. Wie wirkte sich unsere Erwartung auf unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit aus? Wann begann und wann endete das, was wir als Menschenleben bezeichnen?

      Seit Kurzem wurden sie dafür von irgendeiner katholischen Stiftung unterstützt – obwohl sie, wie sie zu ihrem eigenen Erstaunen feststellen mussten, bis dato nur wissenschaftlich unhaltbare Thesen und Resultate erbracht hatten. Aber Saletta hatte nie wirklich hingehört, wenn sie ihr davon zu erzählen versuchten.

      „Verstehst du, Saletta Anna, wir könnten es aufhalten, wir müssen es aufhalten. Letztendlich ist es nur in unserem Kopf! Es ist eine Konstruktion des Todes, den wir nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen, von dem man uns aber glauben macht, er wäre real. Bis wir anfangen, ihn für wahrer zu halten als alles, was sich unseren Sinnen direkt erschließt. Und nein, das ist keine Verschwörung. Das ist ein historisches Zusammentreffen von Umständen und unsauberen Verfahren. Unser Denken führt unsere Sinne an der Nase herum. Und Boccaccio ist nicht der Einzige, der uns darauf aufmerksam macht.“

      Ihr Vater wischte sich mit seinem Taschentuch, in das sein Name eingestickt war, ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Saletta hatte Mühe, nicht laut loszuprusten, so albern kam ihr diese Geste vor. So hemmungslos antiquiert, wie es ohnehin nur ihre Eltern sein konnten.

      „Und was hat das alles mit mir zu tun?“, fragte sie dann. „Es sind eure Forschungsprojekte, bringt sie doch selbst zu Ende.“ Die mandelförmigen Augen ihrer Mutter verengten sich, wie stets, wenn sie es wagte, ihr zu widersprechen.

      „Es geht nicht um uns oder um dich, Saletta Anna. Es geht um die Forschung. Um die Menschheit. Und ich“, fügte sie hinzu und Saletta meinte eine Träne in ihren weichen braunen Augen zu erkennen, die sogar nicht zur Härte ihres Charakters passten „ich muss, ich kann …“

      „Die Mammografie wies einen positiven Befund auf“, ergänzte ihr Vater in einem um Sachlichkeit bemühten Tonfall. „Mama und ich nehmen ein Sabbatjahr. Wir wollten es dir eigentlich nicht heute sagen. Aber wir haben natürlich alles bestens geregelt. Du hast einen Platz am Fabiola-Internat, anschließend kannst du an der St.-Beda-Hochschule studieren. Du musst dir also keine Sorgen machen“, er räusperte sich, „ganz egal, was passiert.“

      Das Brötchen hatte Saletta vergessen, aber ihr Mund stand wohl noch offen, denn nur so konnte es passieren, dass ihr genau in diesem Moment eine Wespe hineinflog, die die Gunst des Augenblicks nutzte und ordentlich zustach.

      Während sie schrie und heulte – sie wusste selbst nicht genau, ob nur wegen des Wespenstiches oder auch wegen all dem, was ihre Eltern ihr angetan hatten und ihr in einer unglaublichen Gefühlskälte just in diesem Moment antaten, sahen diese sich mit bedeutsamen Blicken an: Es war ein Zeichen. Alles war nur Zeichen, das auf etwas deutete.

      Saletta rannte schreiend hinaus, erreichte heulend die Schule, sprach mit niemandem. Am Nachmittag flüchtete sie zu Jenny, die gemeinsam mit ihrer Mutter eine Überraschungsparty für sie vorbereitet hatte.

       Ruf sie wenigstens an und sag ihnen, wo du bist.

      Es war nicht das erste Mal, dass sie die Stimme hörte. Aber das erste Mal, dass sie ihr bewusst nicht folgte.

       Nur ein kurzer Anruf, eine Nachricht aufs Band. Ein Zeichen der Versöhnung.

      

      Aber sie wollte nicht, heulte sich bei Jenny kräftig aus, tanzte und sang dann mit ihren Freunden, war froher und übertrieben lauter Dinge, bis die Nachbarn die Polizei riefen.

      Zum ersten Mal im Leben hatte sie einen Jungen geküsst. Zum ersten Mal im Leben war sie glücklich gewesen. Und betrunken. Vergaß die Zeit, vergaß ihre Eltern, vergaß diesen ewigen Widerstreit zwischen Vernunft, Pflichterfüllung und dem Leben, nach dem sie sich sehnte.

      Sie hätten die Nachricht ohnehin nicht erhalten. Sie kamen in eben dem Moment bei einem Autounfall ums Leben, als Jenny die erste CD eingelegt hatte. Ein schwarzer Audi hatte ihnen die Vorfahrt genommen. Sie waren sofort tot.

      Der Fahrer oder die Fahrerin war vom Unfallort geflüchtet.

      5. Jenny

      Saletta hörte das Klingeln, reagierte aber nicht. Sie erwartete niemanden, hatte niemandem etwas mitzuteilen. Als dann aber die kleinen Steinchen gegen die Fensterscheibe prasselten, wusste sie, wer draußen stand. Wie hatte sie hergefunden? Wieso gerade jetzt?

      „Jenny!“

      Saletta fiel ihr in die Arme.

      „Sanna, oh mein Gott, ich freu mich!“, jauchzte die, doch hielt sie Freude wohl nicht für angemessen, ging sofort in einen zärtlich-leisen Tonfall über, strich der Freundin wie früher die Strähnen aus dem Gesicht.

      „Wie geht es dir denn jetzt?“

      Sie wusste es also bereits.

      „Bist du deshalb hergekommen?“

      Sie nickte, sah die Freundin forschend an.

      „Ich will nicht darüber sprechen.“

      „Sanna, …“

      „Rotwein?“

      „Ja, gern.“

      Saletta ging in die Küche, um eine Flasche Rotwein zu holen – Chianti, wie in ihren besten Zeiten, nur dass sie ihn nicht mehr im Supermarkt um die Ecke, sondern im Bioladen erstand. Mit zwei Gläsern und dem festen Vorsatz bewaffnet, Maschas Tod nicht zu zerreden, sich nicht trösten lassen zu wollen, ging sie zu Jenny zurück. „Rauchst du noch? Soll ich dir einen Aschenbecher holen?“„Ja, leider konnte ich es noch nicht lassen.“

      Kaum hatte sie den Aschenbecher vor die Freundin hingestellt, nestelte Jenny auch schon eine Packung Camel Filter aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Sie schwiegen, ein würziger Nebel breitete sich zwischen ihnen aus, als wollte er sie zu einer stummen Sprechblase verbinden. Jenny erblickte das Fotoalbum, das aufgeschlagen auf dem Boden lag.

      „Ach du liebe Güte, schau nur, wie wir da ausgesehen haben“, rief sie lachend und verstummte erneut. „Dein Geburtstag“, murmelte sie. „Jetzt bist du ganz allein, Liebes“, sagte sie dann in ihrem zärtlichen Große-Schwester-Tonfall.

      Saletta СКАЧАТЬ