Название: Wenn Wolken Wandern
Автор: Carsten Freytag
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750214187
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Sie hatten alles, hatte Noel mir ungläubig staunend gesagt, als er einmal, was äußerst selten vorkam, einen der reichen Landbesitzer mit spanischen Vorfahren besuchen musste, um für ihn etwas zu erledigen. Eine Hacienda, drei große Autos mit Allradantrieb, Zimmer mit Klimaanlagen oder mit mächtigen Ventilatoren, die an den Zimmerdecken hingen wie übergroße summende Bienen. Wie herrlich kühl und luftig es in den Zimmern war. Zimmer mit Glasscheiben und Tapeten. Eine Terrasse, so groß und breit wie fünf Häuser in unserer Straße. Ein Swimmingpool, von weiten Grünflächen umgeben, in dem zwei Frauen ihre Bahnen zogen. Eine hohe Mauer verhinderte neidische Blicke auf die Hacienda, wenn es denn überhaupt eine Gelegenheit gab, einen Blick auf den Lebensstil der Zuckerbarone zu werfen, denn Mitarbeiter einer Security-Firma mit Walkie-Talkies bewachten die Anlage, die von einem drei Meter hohen Drahtzaun abgeriegelt wurde und wo eine rotweiße Schranke den Zugang auf die Anlage kontrollierte.
„Und dennoch geht es uns besser als denen, die hinter der Anlage leben“, hatte Noel nach seinem Aufenthalt beim Zuckerbaron trotzig gesagt, und ich wusste, was er meinte. Wir hatten ein Haus, direkt an der Straße zu der großen Zuckerrohrfabrik in unserer Stadt. Es war zwar aus Stein und ohne verputzte Wände und ohne Tapeten. Aber es bot ausreichend Schutz in der Regenzeit. Wir hatten zwar keine Toilette mit einer weißen Toilettenschüssel mit fließendem Wasser. Dafür wurde unsere große Grube hinter dem Haus jede Woche geleert, obwohl es nur wenig zu entleeren gab, denn wir verrichteten meistens unsere Notdurft heimlich in den Zuckerrohrfeldern, die direkt neben unserer Straße grenzten. Dafür hatten wir eine Pumpe, die uns täglich frisches Wasser zum Kochen lieferte. Wir hatten Strom im Haus, ein Luxus, der nicht zu unterschätzen war. Außerdem hatten wir immerhin zwei fette Schweine im Hinterhof und drei stolze Kampfhähne, angekettet an einer eisernen Stange, die uns ab und zu beim Wetten Geld einbrachten, sofern sie denn den Hahnenkampf überlebten. Oma Ocampo hatte ihre kleine Rente. Noel, 1977 geboren, musste jetzt schon achtunddreißig Jahre alt sein. Noel verdiente sich sein Geld als Tricycle-Fahrer und Jeffrey, der fünf Jahre ältere Bruder, er musste jetzt schon dreiundvierzig sein, vor dem ich mich wegen seiner Unbeherrschtheit immer gefürchtet hatte, arbeitete in einer Autowerkstatt und brachte regelmäßig Geld, wenn auch nicht viel, mit nach Hause. Gab es keine Fahrgäste zu befördern oder Autos zu reparieren, waren Noel und Jeffrey während der Zuckerrohrernte zwischen Oktober und Mai gezwungen, besonders wenn das Essen zu Hause knapp wurde und die Ehefrauen böse Gesichter machten, mannshohe Grasstauden kurz über dem Erdboden mit einer scharfen Machete zu schneiden. Obwohl die Brüder meiner Mama die schweißtreibende Arbeit in den Zuckerrohrfeldern nicht nur wegen der Ameisen, so groß wie Noels Fingerkuppen, und der handflächengroßen Spinnen hassten, die sich in den Grasstauden versteckten, waren sie froh, durch die zusätzliche Arbeit im Herbst und bis zum Frühjahr ihre Kinder ernähren zu können. Bedrohlich wurde die Lage in den Sommermonaten, wenn es keinen Zusatzverdienst gab. Dann durfte der Motor von Noels Tricyle nicht streiken. Dann drohte die Gefahr der bitteren Not.
Dennoch ging es uns besser als den Menschen, die in dem hinter der Wohnanlage beginnenden Slum lebten, wo illegal errichtete wackelige, und daher eher baufällige Hütten, aus Holz und Wellblech bestehend, am Fluss entlangstanden, wo die Menschen gleichzeitig ihr Wasser entnahmen und der Kot flussabwärts trieb. Diese Menschen hatten nichts, wir hatten zumindest wenig. Wie gerne hätte ich mir gewünscht, ein zweites Kleid zu besitzen oder für Mamas Bruder Noel, der mit seinem halbzerfetzten T-Shirt Fahrgäste auf seinem reparaturanfälligen Tricycle mitnahm, ein zweites T-Shirt zu kaufen. Nur einmal, als meine Mama mich zusammen mit Hans-Jürgen und den Kindern auf den Philippinen besuchte, um mich nach Deutschland abzuholen, versammelte sich die ganze Familie im Jollibee und wir aßen riesig große Burger, wie ich sie nur aus der Werbung kannte. Ich war so glücklich, endlich einmal nicht nur Fisch und Reis essen zu können. Und es gab Halo-Halo zum Nachtisch.
Momente des Glücks
Nachdem Hans-Jürgen und seine Kinder das Haus verlassen hatten - ich wusste nicht, was sie noch am frühen Abend vorhatten, sie sprachen selten mit mir -, schlich ich mich ins Badzimmer, um das Blut aus dem Gesicht zu waschen. Meine Mama schaute unten im Wohnzimmer Fernsehen. GZSZ war ihre Lieblingssendung, die sie nicht verpassen durfte. Ich konnte hören, wie sie ab und zu lachte, wenn ihr eine interessante Szene in GZSZ Freude bereitete. Dann lachte sie so ungeniert, als hätte sie vergessen, was sie mir Stunden vorher angetan hatte. Manchmal sang sie fröhliche Lieder, nachdem sie mich verprügelt hatte, so, als wäre nichts geschehen. Ich schaute mir die Wunden im Spiegel an. Ich schob mein Unterhemd zusammen mit meiner blutverkrusteten Bluse hoch. Mein Oberkörper war ein blauroter Fleckenteppich, ein schönes Muster, wobei ich mir bereits eine plausible Lüge für den Sportunterricht am nächsten Tag zurechtlegen musste, um das Zeichen der Mutterliebe zu erklären. Wenn Dorentina und die anderen meiner Clique die Verletzungen entdeckten, benötigte ich keine Erklärung. „Hat deine Mutter dir wieder die Fresse poliert?“, würde Dorentina grinsend fragen, und ich würde wieder einmal die sportliche Freizeitbeschäftigung meiner Mama mit einem stummen Kopfnicken beantworten.
Für meine Sport- und Klassenlehrerin Frau Meyer, wenn sie sich denn für die Herkunft der blauen Flecken interessieren sollte, müsste jedoch ein Reitunfall herhalten. Ein Sturz vom Pferd hinunter während des Reitunterrichts. Hoffentlich würden dann nicht meine Freundinnen Ohrenzeugen dieser Geschichte sein. Ihr breites Grinsen oder ihr unverhohlenes Gelächter würde die Glaubwürdigkeit meiner erfundenen Geschichte so sehr beeinträchtigen, dass Frau Meyer womöglich noch Rücksprache mit meiner Mama wünschte. Aber ich machte mir wieder einmal zu viele Gedanken, denn immer, wenn mir dieses unvergessliche Zeichen der Liebe wiederfuhr, durfte ich zwei Tage zu Hause bleiben. Ein Entschuldigungsschreiben hatte meine Mama, fröhlich ein Lied aus der Heimat summend, noch am Abend aufgesetzt, um es am nächsten Tag per Email an meine Klassenlehrerin zu senden. Starke, krampfhafte Unterleibsschmerzen sind bei pubertierenden Mädchen immer ein hervorragender und plausibler Entschuldigungsgrund.
Zwei Tage allein zu Hause zu sein, war unter diesen Umständen das Schönste, was ich mir vorstellen konnte. Ich hatte meine Ruhe und konnte tun, was ich wollte. Der Mann im Haus war aus dem Haus, um seiner Arbeit als Elektroingenieur nachzugehen, Jacob war im Kindergarten und die beiden älteren Brüder besuchten eine Grundschule, um die gymnasiale Empfehlung zu bekommen. Und Mama arbeitete als Haushälterin bei einer katholisch-philippinischen Gemeinde. Halbtags, damit sie sich noch um ihre Tochter kümmern könne, wie sie einmal während der katholischen Messe laut verkündete, so dass alle Gläubigen in der Kirche es vernehmen konnten. Nur kümmerte meine Mama sich nicht viel um mich. Sie nannte es stolz Erziehung zur Selbständigkeit. Immer stand ich morgens alleine auf, bereitete mir mein Frühstück alleine zu, machte mir ein Pausenbrot zurecht, wenn denn noch Zeit war, und verließ das Haus ohne einen Abschiedsgruß. Mama schlief noch. Kein „Bis nachher, Liebes“ oder „Viel Spaß in der Schule heute, Geraldine“ oder „Wenn du von der Schule kommst, bereite ich dir was Leckeres zu“. Ich verließ das Haus auf leisen Sohlen im dunklen Winter wie im hellen Sommerlicht und schloss leise die Haustür. Es tat mir weh, wenn ich manchmal bei späterem Unterrichtsbeginn sah, wie der Mann im Haus seine Kinder liebevoll betreute, ihre Kleider für den Tag zurechtlegte, das Frühstück und die Pausenbrote zubereitete und sie zum Kindergarten oder zur Schule fuhr. Eine ungewohnte Fröhlichkeit, eine unbekannte Vertrautheit, eine Zärtlichkeit und eine Harmonie, die ich in meinem Leben niemals erlebt hatte. In diesen Augenblicken fühlte ich Wut und Enttäuschung, ja sogar Neid auf die Kinder, und ich zog mich mehr und mehr in mein Schneckenhaus zurück.
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