Название: JACOB
Автор: Irene Dorfner
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Leo Schwartz
isbn: 9783738062045
isbn:
Krohmer verzichtete auf Floskeln und lange Erklärungen. Die 63-jährige Hilde Gutbrod arbeitete viele Jahre für ihn und kannte ihn sehr gut.
„Hätten Sie Zeit und Lust, der Polizei zu helfen?“
„Gerne. Worum geht es?“
„Um Märchen. Erklärungen gibt es später.“
„Alles klar. Ich bin quasi unterwegs.“
Hilde Gutbrod freute sich riesig, dass der Chef an sie dachte. Seit ihrer Pensionierung hatte sie die Pflegschaft für einen besonderen Jungen übernommen, und zwar für Martin. Sie lernte ihn während eines Falles kennen, als sie noch bei der Polizei Mühldorf arbeitete. Martins Mutter kam damals ums Leben und der arme Junge war völlig auf sich allein gestellt. Frau Gutbrod sah es als alleinstehende Frau als ihre Pflicht an, Martin unter ihre Fittiche zu nehmen und sich um ihn zu kümmern, zumal sie sowieso vor der Pension stand und nicht wusste, was sie mit der freien Zeit anfangen sollte. Zeit ihres Lebens war sie kinderlos geblieben und hatte nur noch ihre Nichte Karin, die ihr mit ihrem Egoismus und ihrer Gleichgültigkeit auf die Nerven ging. Martin entwickelte sich prächtig. Frau Gutbrod hatte sich um einen Platz für ihn in einer Einrichtung bemüht, die sich um die Fähigkeiten von Behinderten kümmerte. Sie war sich sicher, dass auch in ihrem Martin eine ganz besondere Fähigkeit schlummerte, die man nur herauskitzeln und an die Oberfläche tragen musste. Dank ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Beziehungen, die sie vor allem während ihrer Zeit bei der Polizei aufgebaut hatte, kam Martin vor zwei Wochen in dieser tollen Einrichtung unter. Frau Gutbrod war sich sicher, dass sich auch ihr ehemaliger Chef eingemischt hatte. Krohmer war einfach ein Schatz! Es war richtig von ihr gewesen, ihn darauf anzusprechen und auch ihn um Hilfe zu bitten. Diese Einrichtung, die den Namen Haus Schwanenberg trug, befand sich in der Nähe des Starnberger Sees und Martin würde für die nächsten fünf Monate dortbleiben. Während dieser Zeit kam er nur an den Wochenenden nach Hause und daher langweilte sich Frau Gutbrod unter der Woche fast zu Tode.
Es ging um Märchen. Das Warum interessierte sie jetzt nicht. Sie packte ihre alten Bücher in einen Koffer, zog sich mehrfach um, bis sie endlich zufrieden war, und ging ins Bad. Sie warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Die ehemaligen Kollegen kannten sie nur als gestylte, gepflegte Frau – konnte sie denen diesen Anblick zumuten? Sie schminkte sich ausgiebig und war mit dem Resultat zufrieden. Dann toupierte sie die zum Glück frisch gefärbten Haare und türmte sie zu einem Ungetüm an Frisur auf. Fertig! Nachdem sie jede Menge Schmuck angelegt hatte, drehte sie sich vor dem großen Spiegel in alle Richtungen. Sie sah für ihr Alter immer noch blendend aus!
„Aus Jacobs Zimmer habe ich dessen Laptop und ein Notizbuch mitgenommen; um beides kümmert sich Fuchs. Das ist die Liste von Jacobs Freunden. Fuchs hat es geschafft, den PIN-Code des Handys zu knacken und hat die Liste daraus angefertigt. Ich habe erfahren, dass sich die Freunde regelmäßig in der Münchner Disco Point X aufhalten sollen. Nehmen Sie sich die Freunde so bald als möglich vor,“ sagte Krohmer, der die Liste durchgegangen war. Tatsächlich waren ihm einige Personen persönlich bekannt. Noch bevor er auf den erneuten Zettel zu sprechen kommen konnte, trat Frau Gutbrod ins Besprechungszimmer ein. Alle sahen sie überrascht an. Vor allem der pinkfarbene Koffer, den sie hinter sich herzog, zog alle Blicke auf sich.
„Frau Gutbrod? Welch Glanz in unserer Hütte!“, rief Hans Hiebler aus und umarmte die ehemalige Kollegin. Das mit dem Glanz meinte er wörtlich, denn Frau Gutbrod hatte es mit ihrem hellgrünen Paillettenkleid, den hochhackigen Lackstiefeln und dem üppigen Schmuck völlig übertrieben. Bei jeder Bewegung glitzerte und klimperte es. Auch die anderen begrüßten sie herzlich. Sie wurde trotz ihrer nervigen Neugier, mit der sie viele fast um den Verstand brachte, schmerzlich vermisst.
„Ich habe Frau Gutbrod gebeten, uns als Expertin in Sachen Märchen zu unterstützen,“ erklärte Krohmer. „Ich weiß, dass sie sich sehr gut darin auskennt und alle gängigen Märchenbücher besitzt.“ Krohmer stellte seiner ehemaligen Sekretärin die neue Mitarbeiterin Tatjana Struck vor, da sich die beiden noch nicht über den Weg gelaufen waren.
Frau Gutbrod sah abschätzend an der neuen Kollegin auf und ab. DAS war die Neue? Klein, pummelig, um nicht zu sagen dick. Und dann noch diese fürchterliche, unvorteilhafte Kurzhaarfrisur. Wie alt sie wohl ist? Bestimmt noch keine 40, das sah man an ihrer Haut. Aber warum ließ sie sich so gehen? Aus ihr könnte man etwas machen, wenn man sich Mühe gab. Ein wenig Make-up und eine neue Frisur würden Wunder bewirken. Und diese Kleidung ging gar nicht! Der dicke, womöglich auch noch selbstgestrickte, farbenfrohe Pullover trug viel zu sehr auf. Die bequemen Schuhe waren nicht geputzt und die Hose saß nicht richtig. Außerdem roch die Frau fürchterlich nach Zigaretten.
„Was ist? Wollen Sie ein Passfoto?“, sagte Tatjana frech, der die Musterung der in ihren Augen überkandidelten Frau missfiel. Ihr ging die Frau jetzt schon auf die Nerven. Warum war sie hier? Waren sie nicht in der Lage, das Rätsel selbst zu lösen? Gegen ihre Anwesenheit zu protestieren würde nichts bringen. Krohmer hatte sie herzitiert und er war nun mal der Chef.
Frau Gutbrod rümpfte die Nase über die tiefe Stimme und die Ausdrucksweise von Frau Struck, die keinen Deut besser zu sein schien als ihre Vorgängerin Viktoria Untermaier. Tatjana Struck hieß die Frau also. Sie hatte den Namen noch nie gehört. Wo kam sie her? Was hatte sie vorzuweisen? Die Neue stand plötzlich auf, kam einen Schritt auf Frau Gutbrod zu und sah ihr direkt in die Augen. Tatjana hasste es, wenn sie angestarrt wurde. Das war doch kein Benehmen! Sekundenlang war es mucksmäuschenstill. Alle waren gespannt, was zwischen den beiden Frauen passieren würde. Nur Krohmer bemerkte nichts. Hilde Gutbrod setzte sich schließlich, und auch Tatjana gab nach. Eins stand fest: Die beiden würden keine Freunde werden.
„Geben Sie Frau Gutbrod das Rätsel. Ich bin gespannt, was es damit auf sich hat,“ drängelte Krohmer.
Frau Gutbrod erschrak, als sie die wenigen Worte überflog. Ängstlich sah sie Krohmer an.
„Was ist los?“
„Das wird Ihnen nicht gefallen Chef, lesen Sie selbst.“
„Den alten Sultan schieß ich morgen tot, der ist zu nichts mehr nütze!“ 20865169
Krohmer war blass geworden, die Sache war offensichtlich ernster, als er angenommen hatte.
„Verstehe ich das richtig? Jacob soll morgen erschossen werden?“
„Nun mal ganz langsam,“ unterbrach Leo, der nicht an einen vorhergesagten Mord glauben wollte. „Bisher haben wir nur einen Satz, mehr nicht. Wie sieht es aus Frau Gutbrod, könnte dieser Satz aus einem Märchen stammen?“ Leo hatte die ehemalige Sekretärin beobachtet, die sofort zu einem Buch griff und hektisch darin blätterte.
„Ich bin mir sicher, dass die Stelle zu dem Märchen Der alte Sultan gehört,“ sagte sie und fand endlich die richtige Zeile. „Hier habe ich es. Ich lag richtig mit meiner Vermutung: Eine Textzeile aus dem Märchen Der alte Sultan. Es ist von den Gebrüdern Grimm und steht an 48. Stelle.“
„Klären Sie uns mit wenigen Worten über den Inhalt auf,“ sprach Krohmer den anderen aus der Seele, die ebenfalls keine Ahnung hatten, worum es in dem Märchen ging.
„Sultan ist ein alter Hofhund, der aufgrund seines Alters erschossen werden soll, da er den Bauern keine Dienste mehr leisten konnte. Sultan hatte die Worte des Bauern gehört und klagte dem Wolf gegenüber sein Leid. Der Wolf hatte Mitleid und heckte mit Sultan einen Plan aus. Dieser bestand darin, dass der Wolf den unbeaufsichtigten Säugling der Bauern stehlen soll. Sultan sollte ihm bellend hinterher und den Säugling retten. Der Plan ging auf und Sultan bekam aus Dankbarkeit sein Gnadenbrot СКАЧАТЬ