Название: Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland
Автор: Arthur Holitscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: gelbe Buchreihe
isbn: 9783753198255
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Wir im Westen horchten auf. Für uns war der 10. Mai 1919 ein geschichtliches Datum, das uns mächtig erschütterte, fast so mächtig, wie der Gedanke an den 25. Oktober 1917, an dem das Proletariat die Macht ergriffen hatte. Wir sahen die Tat der Kasaner Genossen von einer blendenden, die Jahrhunderte überglänzenden Schönheit umflossen. Wir achteten atemlos auf die Brandung, den Glanz, der aus dem Nordlicht herüber schwellen sollte zu den Proletariern der anderen Länder; wir hofften, glaubten und warteten.
Alexander Schljapnikow – Александр Гаврилович Шляпников – 1885 – 1937
Als ein Jahr später Genosse Schljapnikow, der Führer der russischen Gewerkschaften vor dem Vorstand der U.S.P. Deutschlands in Berlin einen Vortrag über Russlands ökonomische Lage und Arbeitsprobleme hielt, fragte ich ihn in der Diskussion, warum er es verabsäumt habe, über die kommunistischen Samstage zu sprechen. Ich bekam eine Antwort, die mich verwirrte und verstummen ließ; sie war ungenügend und vage und schien mir auf den Wesenskern nicht einzugehen. Stand doch der kommunistische Samstag vor meinem Gewissen als etwas Leuchtendes, Heroisches, als ein Beispiel von antiker Größe, denn ich wusste ja, was es für arme, hungrige und übermüdete, dabei träge geborene und jahrhundertelang misshandelte Menschen heißt, freiwillig noch Bürden auf sich zu laden, das einzige hinzugeben, was sie besitzen, ihre Arbeitskraft, und immer wieder Arbeit – für eine Idee, für die Idee!
Als ich Anfang September 1920 nach Moskau kam, erkundigte ich mich nach dem Subbotnik und nahm auch bald darauf an dem kommunistischen Samstag der Beamten, Arbeiter und Angestellten des Auswärtigen Amtes, dem ich zugeteilt war, teil. Nachmittags um drei Uhr begab ich mich zum Hotel Metropol, dem zweiten Sowjet-Haus, in dessen Seitenflügel das Auswärtige Amt untergebracht ist. Unterwegs hielt mich ein Schauspiel, eine kleine Episode auf. Auf dem Platze vor der Oper, vor dem Blumenbeet, in dem aus bunten Blüten und Gräsern in naiver Zeichnung der Kopf von Karl Marx zusammengestellt ist, stand ein alter Kerl von riesigem Wuchs, mit einem Bocksgesicht und einer Rohrflöte vor den Lippen. Zu seinen Füßen lag sein Hut, und in den Hut und um ihn herum hatte man Rubelscheine, Hunderter und Tausender, außerdem noch Äpfel, Stücke Brot geworfen, sogar ein Ei, eine kostbare Seltenheit, eine fast unerschwingliche Kostbarkeit, hatte jemand vorsichtig auf den Haufen zerknüllter Scheine gelegt. Der Alte flötete mit zusammengekniffenen Augen, wie es mir schien, wunderbar und mit erstaunlicher Leidenschaft die wildlieblichen, herzzerreißend melancholischen Weisen Russlands.
Ich hatte mich über Gebühr lang im kleinen Park vor dem Theater aufgehalten und traf unten vor dem Hotel Metropol schon fast sämtliche Beamte, Arbeiter und Angestellten des Auswärtigen Amtes an. Ich stellte mich in Reih und Glied; wir waren etwa 80 an der Zahl, Männer und Frauen, ältere und jüngere Leute. Unter uns waren Korrespondenten vieler Nationen, Stenotypistinnen, ein Staatssekretär (oder von ähnlichem Rang), Delegierte der Internationale, Diener, Beamte aller Kategorien und auch unser Freund, der Quäker, war gekommen. Es ging militärisch zu, unsere Namen wurden von einer großen Liste abgelesen, und hinter die Namen, die sich nicht meldeten, ein Zeichen gemacht. Wir formten uns zu Reihen, zu viert, dann auf offener Straße zu Zweien und zogen in scharfem Marschschritt nach dem Petersburger Bahnhof im Norden der Stadt.
Es war ein etwa halbstündiger Weg, den wir in gutem Tempo zurücklegten. Ich ging neben einem österreichischen Genossen, der mich von Berlin her kannte, wo er mich sprechen gehört hatte. Wenn wir nicht sangen, unterhielten wir uns über den Subbotnik. Wir sangen nämlich viel und herzhaft. Es war ein schöner Herbsttag, sonnig und glasklar. Aus den Seitengossen der Mjasnitzkaja strömten uns ähnliche Züge von Subbotnikern entgegen. Einer von ihnen hatte seine eigene Musikkapelle mit, und bald marschierten wir unter den Klängen der Kapelle, die unser Gesang überbrauste, vorwärts. Die Warschawianka, der Rotgardisten-Marsch. Wunderbare Rhythmen, wie belebtet ihr meine alten Füße!
In den Zwischenpausen gab mir der Genosse Auskunft. Der Subbotnik ist längst keine freiwillige Handlung mehr, sondern ist Pflicht geworden, so für die Kommunisten wie für alle Arbeiter und Angestellten der Sowjet-Behörden, der Regierungsämter, der Betriebsbelegschaften. Es werden Listen geführt, und wessen Name das zweite oder dritte Mal einen Haken angestrichen bekommt, der wird erst gelinde verwarnt, dann ernsthaft zur Rede gestellt und schließlich „ausgekämmt“. Was auch in der Form geschehen kann, dass der Saumselige, Arbeitsunwillige in das Konzentrationslager gesperrt wird, das gefürchtete Lager für Wucherer, Diebe, Gegenrevolutionäre und andere ungetreue Mitglieder der Gesellschaft. Der Subbotnik ist also gewissermaßen ein Prüfstein für die Gesinnung geworden wie etwa der Ruf an die Front.
Auf dem Bahnhof, so hieß es, sollten wir Holz aus Waggons abladen; als wir aber angekommen waren, wies uns der Betriebsleiter des Bahnhofs zu einem Schuppen, wo wir Spaten und Schaufeln aus Eisen und Holz vorfanden; wir hatten für eine geplante Trambahnlinie längs des Eisenbahngleises eine Strecke von 70 Metern Länge und 10 Metern Breite von zähem, seit sechs Jahren angestautem und verhärtetem Schmutz und Schlamm zu säubern. Wir stellten uns nun in eine Reihe auf, entledigten uns unserer Oberkleider und begannen zu schaufeln. Freund Quäker machte rasch ein paar Kodak-Aufnahmen und stand dann in herrlichem grauleinenen Overall, dem amerikanischen Arbeitsgewand, Hose, Weste und Hosenträger aus einem Stück, der Zukunftskleidung der Kommunisten, „Internationalka“ genannt, da; er arbeitete für vier. Ich erkannte viele aus dem Amt, die mich in dieser letzten Woche mürrisch und ohne Freundlichkeit behandelt, die an mir vorübergeblickt und mir unwillig Auskunft gegeben hatten. Jetzt nickten wir einander zu, waren freundlich zueinander, alles Misstrauen schien geschwunden; wir standen ja da und schaufelten gemeinschaftlich knöcheltief in demselben zähen Dreck.
Der Tag war so heiter und glasklar. Hinter uns auf einem Gleise stand ein langer Zug mit heimkehrenden österreichischen, tschechischen und ungarischen Kriegsgefangenen, die uns verwundert anblickten.
Wir arbeiteten, und hier und dort wurde auch gesungen. Wenn auch nicht überall und von allen. Neben mir stand eine junge litauische Arbeiterin, die ihre Spatenhiebe in den Kot mit kleinen Ausrufen begleitete. Einmal sagte sie: wenn nur jeder vor seiner Tür den Mist wegschaufeln wollte, wir brauchten nicht hier zu stehen. Ihre Nachbarin, Sowjet-Bourgeoise, leicht geschminkt und mit Spuren ehemals gewellten Haares seufzte: man lebt zum Glück nur einmal. Der kleine junge Staatssekretär, dünn und zart wie ein Knabe, mühte sich mit einem im Schlamm festgebackenen Wurzelstamm ab. Unsere Arbeit war ziemlich schwer, sie war auf 4 Stunden berechnet, aber in 2½ Stunden hatten wir sie getan. 70 Meter weit war der zähe Schlamm von Jahren weggeräumt, die Trambahnlinie konnte morgen gebaut werden.
Ein Signal: wir marschierten zur Station zurück, stellten uns in Reih und Glied auf und bekamen, jeder und jede, den Schwerarbeiterpajok, d. h. die Lebensmittelzulage eingehändigt: ein halbes Pfund Brot und eine Tüte mit Körnerzucker.
Im rotdunklen Nebel des Abends zogen wir an den phantastischen Türmen Moskaus vorbei durch die Stadt zurück.
Aus anderen Straßen strömten uns Züge entgegen, die Arbeiter und Angestellten der Bekleidungszentralstelle, eine Abteilung roter Soldaten, die Genossen aus dem Kommissariat für Volkswohlfahrt. Hier und da schlüpfte ein Pärchen von kleinen Sowjet-Bourgeoisen, leicht geschminkt und kokett bebändert, aus unserem militärisch stramm über das holprige Pflaster dahin stapfenden Zug auf das glattere СКАЧАТЬ