Название: Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland
Автор: Arthur Holitscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: gelbe Buchreihe
isbn: 9783753198255
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Was soll nun aus dieser maßlosen Zentralisation, aus diesem weiter und immer weiter überwuchernden Beamtenkörper, diesem parasitären wilden Fleisch an dem gesunden Leib eines Arbeitervolkes werden?
Oft fuhr ich nachts aus einem Alptraum auf. Ich sah die Menschheit der Zukunft in zwei Lager gespalten. Die eine Hälfte saß in den Ämtern, die andere wartete in Vorzimmern. Die ganze Entwicklung der Politik kam mir so vor: die in den Vorzimmern strebten danach, selbst die Macht an sich zu reißen, d. h. drin in den Amtszimmern zu sitzen, damit jene, die jetzt im Amt saßen, sich draußen in den Vorzimmern in Reihen stellen müssten. Am ersten Tage meiner Anwesenheit auf ehemals russischem Boden, in Reval, während ich auf das Visum meines Passes im Auswärtigen Amt der Republik Eesti wartete, habe ich mir ein Andenken an diese drei Stunden mitgenommen. Das Außenministerium der Republik Estland ist in einem wunderschönen ehemaligen Herrenhaus, einem großen Haus aus dunkelroten Holzstämmen mit schwarzen Ornamenten außen, weißen Räumen mit enormen Kachelöfen und Empiremöbeln innen untergebracht. Im Empfangszimmer, in dem ich auf meinen Pass wartete, drei Stunden lang wartete – es gingen derweil junge Beamte und Beamtinnen aus und ein, saßen auf den hübschen Empiremöbeln, erhielten von Leuten, die Anliegen hatten, Bonbonpakete, Blumen und anderes zugesteckt – in diesem schönen Vorzimmer habe ich eine Quaste von einem der Empiremöbel abgedreht. All' die Empiresessel und Fauteuils hatten seidene Borten, die von nervösen, stundenlang wartenden Vorzimmerkreaturen in unzählige Fasern zerpflückt und zerrissen über die Lehnen und Beine herunterhingen. Meine Verzweiflungstat vollendete nur das Zerstörungswerk ungezählter Vorgänger in den Empirefauteuils. Wenn ich nachher im Laufe der Monate in Ämtern zu tun und zu warten hatte, zupfte ich in der Tasche an dieser ersten Quaste, fühlte, dachte und betete. Ich betete: lieber Gott, man hat dich abgeschafft; ehe du aber vollkommen von der Erde verschwindest, erlöse uns von diesem Übel. Ich kenne keinen anderen Weg. An wen soll ich mich wenden? An einen Volkskommissar?
William Morris – 1834 – 1896
britischer Maler, Architekt, Dichter, Kunstgewerbler, Ingenieur und Drucker
Und dann dachte ich an William Morris und mein Lieblingsbuch „Märchen von Nirgendwo“. An den wunderbaren Traum, den vor Morris schon Fourier geträumt hat, von dem Schmetterlingstrieb im Menschen, dem Trieb, sich nicht in einer einzigen Beschäftigung zu verknöchern, kein Spezialist zu sein, sondern aus dem Leben an Abwechslungsmöglichkeiten all' das herauszuschlagen, was es enthält und freiwillig hergibt, ohne geschlagen zu werden, wenn die Menschen sich nur ein bisschen helfen wollen, statt sich zu unterdrücken. Ich dachte an die „kleinen Horden“, die Kinder, die so gern im Schmutz wühlen, die daher in der Gesellschaft der Zukunft die Kloaken reinigen werden. Welche Menschenklasse wird in der Gesellschaft der Zukunft die Ämter anfüllen? Gibt es denn Menschen, die das Brot des Bürokraten aus andern Gründen als aus der absoluten Notwendigkeit, zu leben, die es aus dem Trieb, dem Mitmenschen das Leben so sauer wie möglich zu machen, verzehren?
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Subbotnik
Subbotnik
Aus der Moskauer „Prawda“ vorn 17. Mai 1919:
„Das Arbeiten auf revolutionäre Art“
Kommunistische Samstage
Das Schreiben des Zentralexekutivkomitees der Kommunistischen Partei über das Arbeiten auf revolutionäre Art hat den Kommunisten und ihren Organisationen einen mächtigen Ansporn gegeben. Die allgemeine Begeisterung hat viele Eisenbahner unter den Kommunisten nach der Front geführt. Doch die meisten durften ihre verantwortlichen Posten nicht verlassen, um neue Methoden der Revolutionsarbeit zu suchen. Die lokalen Berichte über die Langsamkeit der Demobilisierung und den bürokratischen Schlendrian veranlassten die Untersektion der Eisenbahn Moskau-Kasan, ihre Aufmerksamkeit dem Mechanismus des Eisenbahnbetriebs zuzuwenden. Es stellte sich heraus, dass aus Mangel an Arbeitskräften und infolge geringer Arbeitsintensität dringende Bestellungen und eilige Lokomotiven-Reparaturen verzögert wurden. Am 7. Mai wurde in der Generalversammlung der Kommunisten und ihrer Freunde in der Untersektion der Eisenbahn Moskau-Kasan die Frage aufgeworfen, wie man von Worten zu Taten übergehen könne, um den Sieg über Koltschak zu erringen.
Alexander Wassiljewitsch Koltschak – Александр Васильевич Колчак – 1874 – 1920
Die angenommene Resolution lautete folgendermaßen:
In Anbetracht der schweren inneren und äußeren Lage, die von der Notwendigkeit geschaffen wird, den Klassenfeind niederzuringen, haben die Kommunisten und ihre Freunde sich von neuem aufzuraffen und ihre Ruhezeit um noch eine Stunde zu verkürzen, d. h. ihren Arbeitstag um eine Stunde zu verlängern. Die Überstunden sind zusammenzulegen, und am Samstag sind hintereinander sechs Stunden körperlicher Arbeit zu leisten, um unmittelbar einen realen Wert zu schaffen. In der Meinung, dass Kommunisten weder ihre Gesundheit noch ihr Leben für die Errungenschaften der Revolution schonen dürfen, wollen wir die Arbeit unentgeltlich tun. Der Kommunistische Samstag soll in der ganzen Untersektion bis zum vollständigen Sieg über Koltschak durchgeführt werden.
Nach einigem Hin und Her wurde dieser Vorschlag einstimmig angenommen.
Am Samstag, den 10. Mai, traten um sechs Uhr nachmittags die Kommunisten und ihre Freunde wie Soldaten zur Arbeit an, stellten sich in Reih und Glied und bekamen ohne Umstände von den Meistern ihre Arbeitsplätze angewiesen. (Es folgt die Tabelle der hier und anderweitig geleisteten Arbeit.) Die Gesamtkosten der Arbeit hätten bei normalem Tarif fünf Millionen Rubel betragen. Da diese in Überstunden geleistet wurde, hätte sie eineinhalbmal so hoch berechnet werden müssen.
Die Arbeitsleistung beim Verladen überstieg die Norm um 270 Prozent. Die übrigen Arbeiten weisen ungefähr dieselbe Mehrleistung auf.
So wurden Verzögerungen dringender Aufträge von sieben Tagen bis zu drei Monaten vermieden, die infolge Arbeitermangel und schleppender Arbeit eingetreten wären.
Die Arbeit wurde mittels schadhafter Werkzeuge verrichtet, die zwar leicht auszubessern waren, deren Instandsetzung aber einzelne Gruppen 30 bis 40 Minuten aufhielt.“ –
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In seiner Broschüre „Die große Initiative“, aus der der vorstehende „Prawda“-Bericht wörtlich abgedruckt ist, nennt Lenin den freiwilligen Arbeitsentschluss der Moskau-Kasaner Eisenbahner СКАЧАТЬ